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Die deutsche Emigration in Frankreich

Ruth Fabian / Corinna Coulmas



K. G. Saur München – New York- London – Paris 1978


INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG

Abgrenzung und Ziel der Arbeit

Die benutzten Quellen.

Definitionen.

ERSTER TEIL 

Die Zusammensetzung der Emigration.

Statistik.

Wirtschaftliche oder politische Emigration?

Internationale Maßnahmen zum Flüchtlingsproblem 1933-1939

Die Lebensbedingungen der Emigranten in Frankreich zwischen 1933 und 1939.

Zum Problem der Emigration.

Frankreich als Asylland.

Die französische Asylrechtpolitik zwischen 1933 und 1938.

Das Flüchtlingsproblem..

Die Aufnahme.

Ausreise und Flucht

Die Rechtslage der Emigranten: Aufenthaltsbestimmungen.

Die Wirtschaftslage der Emigranten.

Die Haltung der französischen Juden den Emigranten gegenüber

Die politische und kulturelle Tätigkeit der Emigranten von 1933 bis 1939

Das Schicksal der Saarflüchtlinge.

ZWEITER TEIL

Die unmittelbare Vorkriegszeit

Der Kriegsausbruch.

Die Reaktion der Emigranten.

Die Reaktion der Franzosen.

Die erste Internierungswelle. Legionäre und Prestatäre.

Der Blitzkrieg im Westen und die zweite Internierungswelle.

Vom Waffenstillstand bis zur Vollbesetzung.

Das Schicksal der Emigranten in Vichyfrankreich.

Die Lager

Die Kundt-Kommission und die ersten Auslieferungen.

Die Arbeit der Hilfskomitees nach dem Waffenstillstand.

Das Schicksal der Emigranten in der besetzten Zone.

Deportation und Massaker

Die italienische Besatzung.

EPILOG.

Die Befreiung und die unmittelbare Nachkriegszeit

Die Integration und ihre Grenzen.

BIBLIOGRAPHIE


VORWORT

Die vorliegende Arbeit geht auf einen Vorschlag zurück, den der frühere Berliner, heute in den Vereinigten Staaten wirkende Prof. Herbert Strauss dem „Council of Jews from Germany" unterbreitet hat, dessen amerikanischer Delegierter er ist. Der „Council" ist die internationale Dachorganisation der deutsch-jüdischen Emigrantenvereinigungen in den verschiedenen Ländern.

Es war geplant, das Schicksal der deutsch-jüdischen Flüchtlinge in allen wesentlichen Emigrationsländern zu schildern und ein Gesamtwerk zu veröffentlichen. Für Frankreich wurde mit der Durchführung dieses Projektes Dr. Kurt L. Lang beauftragt. Er hat trotz schwerer Krankheit wertvolles Dokumentationsmaterial zusammengetragen und überlebende Emigranten wie auch französische Persönlichkeiten interviewt. Er konnte die ihm gestellte Arbeit leider nicht zu Ende führen.

Nach seinem Tod wurde ich mit der Weiterführung des Projektes beauftragt. Je mehr ich mich in die Arbeit vertiefte, umso mehr wurde mir klar, daß eine Untersuchung, die nur die — zahlenmäßig natürlich weitaus größte — jüdische Emigration erfassen sollte, recht unvollständig bleiben musste und daß man die Handlungen und das Schicksal der ideologischen und der politischen Flüchtlinge nicht getrennt behandeln oder ausschließen kann.

Weiterhin ergab sich, daß für eine gründliche wissenschaftliche Arbeit jahre­lange Quellenstudien und ein „Team" erforderlich wären. Nicht nur müsste fast die gesamte französische Presse während der Zeit des Dritten Reiches durchgesehen und viele deutsche Archive konsultiert, sondern es müssten, solange es noch möglich ist, deutsche und französische Persönlich­keiten, überlebende Emigranten und ihre Kinder in noch größerer Zahl in­terviewt werden. Die verschiedensten Probleme und Aspekte — soziolo­gisch, psychologisch, geschichtlich - müssten in gründlichen Einzelunter­suchungen geklärt werden, vor allem die Integration der in Frankreichverbliebenen Emigranten und das Schicksal der zweiten Generation. Die Mitautorin, Dr. Corinna Coulmas, eine seit einiger Zeit in Frankreich lebende Deutsche, die kürzlich in Paris - ohne Jüdin zu sein - über ein jüdisches Identitätsproblem mit Auszeichnung promoviert hat, ermöglichte es, die Untersuchungen zu Ende zu führen und den Text zu redigieren.

Dank gebührt Günter Markscheffel für die Überlassung seines autobiogra­phischen Berichtes über seine Emigrantenzeit in Frankreich und Dr. E. Kaskeline, der mir sein vor einigen Jahren für das Leo-Baeck-Institut in New York in englischer Sprache verfasstes Manuskript über die Zeit 1933 bis 1940 liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat.

Diese Arbeit ist Ende 1976 abgeschlossen worden. Die seither erschienene Literatur, insbesondere die bedeutende Arbeit von Hanna Schramm/ Barbara Vomaier über „Jews“ konnte daher nicht berücksichtigt werden.

Diese Arbeit gibt einen Überblick über das Geschehene und mag die­jenigen interessieren, die sich ein Bild über das Schicksal der Menschen machen möchten, die - welche Nationalität sie auch erworben haben mögen - aus Deutschen oder deutschen Juden zu Juden aus Deutschland geworden sind.

Ruth Fabian


EINLEITUNG

Abgrenzung und Ziel der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist der Versuch einer Geschichte der deutschspra­chigen Emigration in Frankreich nach 1933. Sie befasst sich mit dem Schicksal von Menschen, die nach Hitlers Machtergreifung aus den von den Nationalsozialisten regierten bzw. besetzten deutschsprachigen Gebieten nach Frankreich geflüchtet oder emigriert sind. Die Geschichte dieser Emi­gration gliedert sich in drei große Epochen. Das Los der Emigranten steht in der Vorkriegs-, in der Kriegs- und in der Nachkriegszeit unter verschie­denen Vorzeichen. Während es zur Erforschung der Vorkriegs- und der Kriegszeit sowohl an aufgearbeitetem wie auch an noch unaufgearbeitetem Material nicht mangelt (zahlreiche Einzelaspekte der Emigration, wie die Exilliteratur oder -presse oder die politische Tätigkeit der Flüchtlinge, sind bereits in wissenschaftlichen Werken behandelt worden; außerdem gibt es viele Autobiographien aus dieser Zeit) ist über die Nachkriegszeit noch kaum etwas geschrieben worden. Da für die Zeit nach 1945 die offiziellen Dokumente fast vollständig fehlen, sind wir hier auf empirische Methoden angewiesen.

Wir versuchen in unserer Arbeit — wenn auch mit unterschiedlich gesetzten Akzenten — allen drei Epochen gerecht zu werden. Das Schicksal der Emi­granten von 1933 bis 1939 ist in einem ersten Teil, das während der Kriegszeit in einem zweiten Teil geschildert, wobei wir gesondert auf die Zeit vor und nach der Vollbesetzung eingehen. Die Eingliederung der Emi­granten in die französische Gesellschaft, sofern sie nicht deportiert, weiter­gewandert oder nach Deutschland zurückgekehrt sind, wird in einem Epi­log beschrieben.

Der historische Abriss bildet den Hintergrund zu einem Porträt der ersten und der zweiten Emigrantengeneration. Besonders beschäftigen uns dabei die Fragen: Wer sind diese Emigranten? Woher kommen sie? Welchen Beruf übten sie in ihrem Herkunftsland aus? Was ist aus ihnen in sozialer Hinsicht geworden? Wie wirkt sich die Emigration dieser Generation auf das Schicksal ihrer Kinder aus?

Es gibt auf dem Gebiet der Emigrationsforschung bisher noch keine Regio­nalstudie über Frankreich, wenn auch Frankreich der Schauplatz zahlrei­cher Autobiographien ist, in denen sich Anekdotisches mit Allgemeingülti­gem vermischt. Ferner ist in Arbeiten über bestimmte Themenkreise, wie die Judenverfolgung während der Nazizeit, auch Frankreich beschrieben worden, jedoch immer nur unter einem bestimmten Aspekt. Wenn wir uns in unserem historischen und soziologischen Querschnitt ganz auf dieses Land beschränken, so hat das zwei Gründe: Einerseits glauben wir, auf diese Weise einen repräsentativen Überblick über den Charakter der deutsch­sprachigen Emigration nach 1933 geben zu können. Das Schicksal der Naziflüchtlinge in Frankreich als größtem Emigrationsland Europas ist in der Tat beispielhaft für die gesamte Epoche. Andererseits stellt dieses Schicksal durch das Phänomen der Doppelverfolgung etwas ganz besonde­res dar: Die Menschen, die sich 1933 oder in den darauf folgenden Jahren dem Zugriff der Nationalsozialisten entziehen konnten, mussten 1940, nach der Teilbesetzung Frankreichs, abermals und 1942, nach der Vollbesetzung, teilweise zum dritten Mal fliehen. Bisher ist diese Doppel­verfolgung noch nicht systematisch erfasst worden. Wir haben es uns zur Aufgabe gesetzt, in unserer Arbeit die sich daraus ergebenden materiellen und psychischen Schwierigkeiten für die Flüchtlinge zu untersuchen.

Die benutzten Quellen

Außer gelegentlichen Rückgriffen auf die Exilpresse haben wir uns bei un­serer Untersuchung auf die Sekundärliteratur beschränken müssen. Dies hat zweierlei Gründe: Erstens würde eine noch umfangreichere Dokumen­tation den Rahmen dieser Arbeit sprengen; mehr als den Stoff der zahlrei­chen und teilweise außerordentlich detaillierten Einzelstudien auszuwer­ten, wäre für unseren Zweck sinnlos. Zweitens sind Quellen aus erster Hand über die Nazizeit in Frankreich größtenteils unzugänglich. Zahlreiche Archive wurden auf Veranlassung der deutschen Behörden oder der Vichyregierung kurz vor dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Re­gimes zerstört, und anschließend ordnete der Innenminister der neuen französischen Regierung am 6. September 1946 und am 31. Januar 1947 die Zerstörung aller Dokumente an, „die eine Politik rassischer Diskrimi­nierung widerspiegeln". Die Archive der wichtigsten Internierungslager wurden bei der Befreiung von den Häftlingen selbst verbrannt. Schließlich muss man die Scham vieler Franzosen über die erlittene Schmach wie über das eigene Verhalten während der Besetzung und auch den Unwillen, sich daran zu erinnern, in Betracht ziehen. Im allgemeinen stehen die Behörden einem Forschungsvorhaben über diese Zeit reserviert gegenüber, und sie er­schweren den Zugang zu den eventuell noch erhaltenen Dokumenten. Hin­zu kommt, daß über viele wichtige Ereignisse niemals Dokumente existiert haben. So haben z.B. die Vichybehörden 1942 die Anweisung zur Depor­tation ausländischer Juden größtenteils mündlich gegeben, schon damals darum besorgt, keine schriftlichen Spuren zu hinterlassen.

Untersuchungen wie die hier vorliegende haben die Eigenschaft, das Mate­rial unter gewissen Gesichtspunkten zusammenzufassen und zu deuten. Um die notwendigerweise daraus entstehenden Abstraktionen durch leben­diges Material zu bereichern, haben wir für unsere Arbeit eine große An­zahl von Interviews verwendet und außerdem auf zahlreiche Autobiogra­phien und Selbstzeugnisse zurückgegriffen. Solche Interviews durchzufüh­ren war nicht immer leicht: Die Menschen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, sind alt. Mehr als man denken möchte lehnen es aus überlieferter Angst und aus althergebrachtem Misstrauen ab, zu sprechen. Andere können oder wollen sich nicht mehr erinnern. Es schien uns wichtig, diese Arbeit zu Stande zu bringen, solange wir diese Epoche nicht nur durch Fakten, sondern auch durch die mannigfaltigen und teilweise widersprüchlichen Darstellungen von subjektiv Erfahrenem wieder lebendig machen können.

Definitionen

Wenn wir im Folgenden eine kurze Definition der benutzten Termini ge­ben, so geschieht das, um die Lektüre zu erleichtern und Missverständnisse zu vermeiden. Auf die Problematik der Terminologie Emigrant - Emigra­tion - Flüchtling - Exulant - Exilierter - Exil soll hier nicht eingegangen werden. Sie ist von Helmuth Müssener[1] ausführlich behandelt worden. Wir haben im allgemeinen die Begriffe Emigrant, Flüchtling, Emigration be­nutzt, in Anlehnung an die französischen émigré, réfugié und émigration, die man sowohl politisch als auch unpolitisch verstehen kann. In Frank­reich haben sich sowohl die unfreiwilligen Auswanderer wie auch die soge­nannten „politischen Flüchtlinge" als Emigranten bezeichnet. Da uns das Schicksal der gesamten Emigration interessiert (die auch die zahlenmäßig kleine Gruppe der politischen Exilierten umfasst, jedoch in keiner Weise privilegiert) haben wir uns an den allgemeinen Begriff gehalten.

Wir haben zu Beginn dieser Arbeit von „deutschsprachiger Emigration" ge­sprochen. Unter deutschsprachig verstehen wir alle aus Deutschland, Öster­reich und dem Saargebiet eingewanderten Personen, ohne dabei die — in Frankreich ohnehin nicht große — Gruppe von ebenfalls deutschsprachigen Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei zu berücksichtigen. Wir haben uns zu dieser Einschränkung entschlossen, weil für die Definition des Flüchtlingsstatus in Frankreich nicht die Staatsangehörigkeit, sondern das Land, aus dem der Flüchtling gekommen war, entscheidend war. So wurden eini­ge deutsche Juden, die erst in die CSR geflohen und dann nach Frankreich gekommen waren, und deren Herkunftsland als „indéterminé" (nicht fest­stellbar) definiert wurde, im Gegensatz zu ihren deutschen, österreichi­schen und saarländischen Schicksalsgenossen bei Kriegsausbruch nicht in­terniert. Andererseits kamen z.B. Türken oder Polen aus Deutschland nach Frankreich und waren dann „réfugiés provenant d'Allemagne" (Flüchtlinge aus Deutschland). Unsere Definition bezeichnet insofern eine Schicksals­gemeinschaft, die mit rein geographischen bzw. linguistischen Kriterien nicht zu erfassen ist.

Wenn wir von „erster" und „zweiter Emigrantengeneration" sprechen, hal­ten wir uns dabei an folgende Gesichtspunkte. Unter „erster Generation" verstehen wir all diejenigen, die noch in Deutschland wenigstens ein paar Jahre lang zur Schule gegangen sind. Selbst wenn diese Personen nicht aus eigener Entscheidung in die Emigration kamen, so haben sie doch das Emi­grationsschicksal bewusst erlebt. Mit dem Begriff „zweite Generation" be­zeichnen wir diejenigen, die als Kleinkinder nach Frankreich gekommen oder bereits dort geboren sind.

ERSTER TEIL

Die Zusammensetzung der Emigration

Statistik

Um die deutschsprachige Emigration in Frankreich statistisch zu erfassen, müssen wir dreierlei untersuchen:

1.     Wie viele Naziflüchtlinge lebten in Frankreich?

2.     Wann kamen sie an?

3.  Wie lange blieben sie?

Eine Antwort auf diese Fragen ist nur annäherungsweise möglich, es sind zum Problem der Emigration in Frankreich während der Hitlerzeit keine genauen Statistiken vorhanden. Unsere Zahlen basieren auf Schätzungen der internationalen und privaten Hilfsorganisationen für Flüchtlinge, die naturgemäß nicht die gesamte Emigration umfassen. Wenn man jedoch die­se Zahlen durch die Angaben französischer offizieller Stellen ergänzt (die meisten Emigranten waren polizeilich gemeldet), ist anzunehmen, daß man der Wahrheit ziemlich nahe kommt.

Die Gesamtzahl der zwischen 1933 und 1944 in Frankreich lebenden deutschsprachigen Emigranten war nie höher als 60 000. Die meisten von ihnen blieben nur kurze Zeit und wanderten weiter nach Übersee aus. So kamen in den ersten Monaten nach Hitlers Machtergreifung 26 000 deut­sche Flüchtlinge nach Frankreich. 1935 hatten davon bereits 19 000 das Land wieder verlassen.

In absoluten Zahlen ist Frankreich das größte Emigrationsland Europas und nach den USA das größte der Welt. Laut A. Tartakower[2] haben sich allein zwischen 1933 und 1940 mehr als 150000 deutsche Emigranten zeitweise in Frankreich aufgehalten. Hinzu kommen zwischen 5 000 und 6 000 Saarflüchtlinge (nach der Eingliederung des Saargebietes ins Deutsche Reich 1935) und etwa 10 000 österreichische Flüchtlinge (1938, nach dem „Anschluss"). Auch die 7 500 Juden aus Baden-Württemberg und der Pfalz, die 1940 von den Deutschen nach Frankreich geschafft und in süd­französische Lager interniert wurden (und auf deren Sonderschicksal wir noch näher eingehen werden) müssen zur deutschen Emigration gezählt werden. Die Gesamtzahl der deutschsprachigen Naziflüchtlinge beläuft sich laut Tartakower und Grossmann zwischen 1933 und 1943 auf ca. 285 000. Sind diese Angaben korrekt, sind mehr als die Hälfte aller deutschsprachi­gen Emigranten durch Frankreich gekommen.

In ganz Westeuropa befanden sich 1947 noch etwa 95 000 Vorkriegsflüchtlinge, davon etwa 20 000 in Frankreich. 7 000 bis 8 000 von ihnen stam­men aus Deutschland und Österreich[3].

Noch weniger Angaben als über die Zahl der Flüchtlinge liegen über ihr An­kunftsdatum vor. Da viele von ihnen illegal die Grenze überschritten haben, sind genaue Statistiken gar nicht aufzustellen. Man kann jedoch zwischen 1933 und 1940 mehrere Epochen unterscheiden, von denen jede ihre eige­ne Emigrationswelle hervorgebracht hat. Die Schwierigkeiten, denen die Emigranten begegneten, ähnelten sich während all dieser Jahre, jedoch verschlechterte sich mit der Zeit die Lage im Bezug auf die Flucht- und Auf­nahmebedingungen, und die Gefahr wuchs.

Schematisierend könnte man sagen, daß die erste große Fluchtwelle unmit­telbar nach Hitlers Machtergreifung einsetzte. Nach Angaben des „Hoch­kommissariates für deutsche Flüchtlinge“ haben sich in der ersten Hälfte des Jahres 1933 von den insgesamt 59 000 Flüchtlingen rund 39 000 innerhalb der französischen Grenzen aufgehalten. Der Röhmputsch vom 30. Juni 1934 bedeutete für viele die Konsolidierung des Hitlerregimes und das Ende des Rechtsstaates. Abermals entschloss sich eine große Anzahl von Personen, Deutschland zu verlassen. Eine dritte Emigrantenwelle folgte 1935, nach den Nürnberger Gesetzen, und eine vierte nach den Pogromen gegen die Juden in Deutschland, vor allem nach der sogenannten Kristall­nacht vom 10. November 1938. Ein Großteil der österreichischen Juden floh erst nach dem Anschluss ihres Landes an Deutschland am 13. März 1938.

Über die Aufenthaltsdauer der Flüchtlinge in Frankreich gibt es bis heute keinerlei Unterlagen. Sie variiert zwischen Wochen, Monaten und Jahren, und sie hing gewöhnlich davon ab, ob und wie schnell ein Emigrant das Überseevisum zur Weiterreise erhalten konnte. Nur ein geringer Prozent­satz der Flüchtlinge hatte den Willen, in Frankreich zu bleiben.

Herkunft, Alters- und Berufsstruktur der Emigranten

Wer waren diese Flüchtlinge ihrer Herkunft nach, was trennte sie, und was hatten sie miteinander gemein? Es handelte sich bei ihnen allen entweder um Regimegegner oder um Naziverfolgte, wobei, wie wir noch sehen wer­den, die Trennlinie zwischen diesen beiden Kategorien nicht immer einfach zu ziehen ist. Geographisch gesehen kamen sie zunächst aus den anliegen­den Gebieten, aus der Ruhr und aus dem Rheinland, aus Baden und aus Württemberg. In den ersten Jahren nach 1933 lässt sich bei allen Emigran­ten die Tendenz beobachten, das nächstliegende Nachbarland als neuen Wohnsitz zu wählen. So gingen die Schlesier oder die Sachsen eher in die Tschechoslowakei, die Rheinländer nach Holland, Belgien oder Frankreich. In der Tat glaubte zunächst kaum einer an die Lebensfähigkeit des Hitler­regimes, und man wollte das „Ende des Faschismus" möglichst nahe von zuhause abwarten. Später spielten andere Kriterien eine Rolle, und in vie­len Fällen suchte man sich sein Fluchtland mangels eines Einreisevisums nach den besten Möglichkeiten eines illegalen Grenzübertrittes oder auch den dort geltenden Aufenthaltsbedingungen, nach dem Arbeitsmarkt und den Weiterwanderungsmöglichkeiten aus, soweit überhaupt von „Aus­suchen" die Rede sein kann.

Die Physiognomie der Emigration wandelte sich im Laufe der Jahre sowohl in ihrer Alters- als auch (wenn auch in geringerem Maße) in ihrer Berufs­struktur. Während zu Anfang hauptsächlich junge Leute emigrierten, ver­ließen in den späteren Jahren und vor allen Dingen nach der „Kristall­nacht" Personen jeder Altersgruppe das Land. Dennoch blieben vornehm­lich die alten Menschen zurück, die sich physisch oder psychisch zu einem solchen Schritt nicht mehr in der Lage fühlten, sowie diejenigen, die die Gefahr bis zuletzt unterschätzt hatten. Auch eine Reihe alleinstehender Kinder befanden sich unter den Emigranten. Ihre Eltern hatten sie durch Hilfskomitees fortgeschickt, um sie in Sicherheit zu bringen.

In sozialer Hinsicht stammten die deutschsprachigen Emigranten in Frank­reich in ihrer überwältigenden Mehrheit aus der Mittelschicht. Außerdem finden wir einen starken Prozentsatz von Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern - der Exodus der deutschen geistigen Elite ist eines der bekanntesten und meistbehandelten Themen der Nazizeit. Die deutschen Flüchtlinge waren im allgemeinen einen gehobenen Lebensstandard gewohnt. Etwa 80% der Emigranten wa­ren Juden, die vor 1933 meist bürgerlich und oft recht wohlhabend gelebt hatten. Dies gilt nicht für die österreichischen Juden, die sozial von oft populärer Herkunft waren. Die große Wiener Gemeinde bestand hauptsächlich aus Flüchtlingen des Ersten Weltkriegs aus Galizien, die sich in Österreich mühsam eine Existenz aufgebaut hatten. Größtenteils aus dem Arbeitermilieu stammten die Saarflüchtlinge, die aus ideologischen Grün­den emigriert waren (sie hatten beim Plebiszit für die Beibehaltung der Völkerbundregierung im Saargebiet gestimmt) und im allgemeinen den Linksparteien angehörten.

Wirtschaftliche oder politische Emigration?

Die deutschsprachige Emigration in Frankreich, wie die gesamte durch den Nationalsozialismus verursachte Emigration, bildet keine ideologische Ein­heit. Bevor wir auf die verschiedenen dort vertretenen Richtungen eingehen (wie wir sehen werden, finden sich dort fast alle denkbaren politischen und weltanschaulichen Tendenzen) müssen wir zunächst auf zwei große Grup­pen verweisen, deren Charakteristika sich in Bezug auf „Selbstverständnis und Fluchtmotive, Flucht- und Exilverhalten"[4] unterscheiden. Diese bei­den Gruppen werden im allgemeinen, nicht eben glücklich, als „politische Emigration" und als „Wirtschaftsemigration" definiert.

Als „politisch Exilierte" bezeichnet H.-A. Walter alle Personen, „die, gleichgültig welcher Nationalität und Rasse, Deutschland und die später von diesem annektierten Staaten wegen des drohenden oder an die Macht gelangten Faschismus verließen oder deshalb nicht mehr dahin zurückkeh­ren konnten oder wollten, und die im Ausland in irgendeiner politischen, publizistischen oder künstlerischen Form, direkt oder indirekt, gegen den deutschen Faschismus Stellung genommen haben"[5]. Ein exilierter oder politischer Flüchtling hegt immer Rückkehrgedanken. Er bekämpft das Regime, aber desolidarisiert sich nicht von dem Land, in dem das Regime herrscht. Wir ziehen für unsere Arbeit die Bezeichnung „ideologischer Flüchtling" vor, da dieser Begriff auch jene - keineswegs unbedeutende - Gruppe von Emigranten mit umfasst, die keinerlei direkte politische Tätig­keit ausübte und nur deshalb das Land verließ, weil sie die Ideologie und die daraus entspringenden Methoden des Nationalsozialismus nicht akzep­tieren konnte. Nicht alle von ihnen haben dann im Exil expressis verbis gegen das Hitlerregime Stellung genommen. Manche fuhren einfach in ihrer Arbeit fort, waren Wissenschaftler, Maler oder Schriftsteller, weil ihnen die Tatsache, daß sie nicht mehr in Deutschland lebten, für sich allein spre­chend genug erschien.

Dem politischen Emigranten, oder ideologischen Flüchtling, steht in der allgemein üblichen Terminologie der sogenannte „Wirtschaftsemigrant" gegenüber. Wir werden im Folgenden diesen Begriff nicht verwenden, da er uns politisch und außerdem sachlich unrichtig erscheint. Emigration be­deutete für die Betroffenen Lebensrettung und erst in zweiter Linie wirt­schaftliche Existenzsicherung. Trotz dieser Einschränkungen muss man die jüdische Emigration von der ideologischen unterscheiden, selbst wenn da­bei Überschneidungen vorkommen. Die deutschen Juden waren, von den zionistischen und marxistischen Gruppen abgesehen, politisch kaum bewusst und in ihrer Mehrheit „mit Sicherheit keine aktiven Gegner des Faschismus"[6]. Während die ideologischen Emigranten, mit Ausnahme der Untergrundkämpfer, größtenteils 1933 Deutschland verließen, setzte die jüdische Emigration langsam ein. Sie erreichte einer Statistik des Leo Baeck Instituts zufolge[7] erst 1938/39 ihren zahlenmäßigen Höhepunkt. Nach einmal vollzogenem Schritt war der Bruch der jüdischen Emigranten mit ihrem Herkunftsland viel endgültiger als der der ideologischen Exilierten. Die Emigration wird als Auswanderung verstanden, d.h. als die Suche nach einer neuen Heimat. Nur in den seltensten Fällen (zumindest in den späten Jahren) dachten die jüdischen Flüchtlinge an Rückkehr. Dementsprechend war auch ihr Exilverhalten. Während die politischen Exilierten ihren Kampf gegen den Faschismus fortsetzten, beteiligte die Masse der jüdischen Emigranten sich weniger daran.

Es ist klar, daß diese Unterscheidung schematisch ist und einer komplizier­ten Realität nicht gerecht wird. Man muss bedenken, daß viele politisch aktive Intellektuelle und Künstler Juden waren. Diese Tatsache konnte nicht ohne Einfluss auf ihr Bewusstsein bleiben. Außerdem hat das Ausmaß der Judenverfolgung bei fast allen im Lauf der Jahre ihre Beziehung zu Deutschland geändert. So wurden aus politisch Exilierten, als die sie sich erst verstanden hatten, Emigranten ohne den Willen heimzukehren. Aber wissenschaftliche Begriffe dieser Art tragen Identitätsproblemen selten Rechnung.

Wenn wir uns ihrer trotzdem bedienen, so geschieht dies abermals um der Vereinfachung willen. Wir werden in einem besonderen Kapitel die wich­tigsten Aktivitäten der ideologischen Exilierten auf politischem und kultu­rellem Gebiet beschreiben, ohne jedoch im Einzelnen darauf einzugehen. Man darf nicht aus den Augen verlieren, daß es sich dabei um eine - wenn auch wichtige - Minderheit der Emigranten handelt, während der Schwer­punkt unserer Arbeit auf dem allgemeinen Schicksal liegt.

Internationale Maßnahmen zum Flüchtlingsproblem 1933-1939

Bereits 1933 erwies sich das Problem der deutschen Flüchtlinge in Europa als so groß, daß es nicht mehr auf Regierungsebene gelöst werden konnte. Sehr schnell wurde allgemein die Notwendigkeit einer internationalen Re­gelung anerkannt, und so brachte man die Frage vor den Völkerbund. Wie wir sehen werden, sind trotz kontinuierlicher Beschäftigung mit dem Pro­blem die Resultate der internationalen Hilfe außerordentlich mager. Dies hat mehrere Gründe. Es bestand, aus psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Motiven, zu jener Zeit ein in der ganzen Welt verbreiteter Unwillen, politische Flüchtlinge aufzunehmen. Sodann war der Gedanke internationaler Zusammenarbeit weniger anerkannt als heute. Die internationalen Organisationen besaßen deshalb nur einen sehr einge­schränkten Wirkungsbereich. Schließlich verfügten sie über so unzureichen­de Mittel, daß sie praktisch zur Untätigkeit verdammt waren.

Im Jahre 1933 zählte der Völkerbund 50 Mitgliedstaaten, zu denen jedoch die USA — das größte Emigrationsland — nicht, wohl aber Hitlerdeutsch­land gehörte. Es ist nicht verwunderlich, daß bei dieser Ausgangsbasis keine für die Naziflüchtlinge zufriedenstellende Lösung gefunden werden konnte. Die erste Sitzung des Völkerbundes zum Problem der deutschen Flüchtlin­ge fand im Oktober 1933 statt. Wenn von vornherein klar war, daß die materiellen und sozialen Aspekte ( die die eigentlichen Schwierigkeiten im Leben der Flüchtlinge darstellten) unerörtert bleiben würden, hatte man doch gehofft, wenigstens die juristischen Fragen zu regeln. In der Tat wa­ren Tausende von Personen von zweifelsfreier nationaler Herkunft plötz­lich staatenlos geworden und ohne konsularischen Schutz. Die einfachste Lösung wäre gewesen, die Flüchtlinge dem Nansenamt zu unterstellen[8]. Dies geschah nicht.

Die Gründe dafür sind sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Natur. Zu Beginn der dreißiger Jahre standen noch alle westeuropäischen Länder unter der Auswirkung der Weltwirtschaftskrise. Die allerorts angewandte deflationäre Politik hatte oft ein starkes Defizit im Staatshaushalt und Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig schwindender Kaufkraft zur Folge. Als Konsequenz schlossen die meisten Aufnahmeländer den Flüchtlingen den Arbeitsmarkt. Ein weiteres entscheidendes Element für die Völkerbundpolitik war die Angst der europäischen Staaten vor dem politischen und - für die kleineren Nachbarländer — ökonomischen Druck Hitlerdeutsch­lands. Da 1933 bei vielen Regierungen noch die Hoffnung auf ein Ab­rüstungsabkommen bestand, wollte man Hitler durch eine allzu liberale Asylpolitik nicht verärgern.

Das Ergebnis der ersten Völkerbundsitzungen bestand, wie zu erwarten, in einer Kompromisslösung. Es wurde die Gründung eines „vom Völkerbund initiierten, aber sonst privaten Flüchtlingskommissariates" mit Sitz in Lausanne beschlossen. Der erste Hochkommissar war der amerikanische Professor James McDonald. Das Hochkommissariat hatte kein eigenes Budget. Um seine Bürokosten zu decken und um Hilfsaktionen zu organi­sieren, war es auf private Spenden angewiesen. Der Völkerbund hatte dem Flüchtlingsamt zur Deckung seiner ersten Organisationsunkosten 25 000 SF überwiesen - leihweise. Die Mitarbeit am Hilfswerk lag im freien Ermessen der Mitgliedsstaaten des Völkerbundes. Das Hochkommissariat für deut­sche Flüchtlinge hat nur eine einzige konkrete Leistung zu verzeichnen: Am 30.1.1934 forderte es die Regierungen in einem Empfehlungsschreiben auf, den Flüchtlingen einen Interimspaß auszustellen. Die 16 im Verwal­tungsrat vertretenen Staaten erklärten sich zu dieser Lösung bereit. Frank­reich stellte diese Pässe nicht aus.

Am 27.12.1935 trat McDonald von seinem Posten zurück. In seinem De­missionsschreiben erklärte er, daß eine seriOSE Arbeit unter solchen Um­ständen unmöglich sei. Er wurde durch Generalmajor Sir Neill Malcolm er­setzt, doch die Organisation des Hochkommissariats blieb die gleiche. Sein Aufgabenbereich beschränkte sich weiterhin auf den legalen und politischen Schutz der Flüchtlinge, während die soziale Hilfe privaten Organisa­tionen überlassen blieb.

Zumindest formal war Malcolm größerer Erfolg beschieden als McDonald. Er „berief zum 2.7.1936 eine Regierungskonferenz nach Genf ein, die eine Definition des Begriffes ,Deutscher Flüchtling' erarbeiten und ein juristi­sches Statut verabschieden sollte"[9]. Das Ergebnis dieser Konferenz war die sogenannte Flüchtlings- oder Völkerbundkonvention für deutsche Exilierte. Sie wurde laut Grossmann[10] von Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Norwegen, Spanien und der Schweiz unterzeichnet. England, Spanien und Frankreich nahmen ihre Kolonien von der Gültigkeit aus.

Die Grundelemente dieser Konvention waren die Ausstellung und Erneue­rung des Flüchtlingspasses. Ferner sollte bei Ausweisungen, die „aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung" erfol­gen dürfen, dem Flüchtling künftig eine Frist gelassen werden, um seine Ausreise zu regeln.

Trotz dieser juristischen Fortschritte bleib die soziale und materielle Seite des Flüchtlingsproblems ungelöst. Im Laufe der Jahre schrumpften die Mit­tel der privaten Hilfsorganisationen zusammen, und 1938 wurde eine neue Konferenz einberufen, die am 10. Februar, einen Monat vor dem „Anschluss" Österreichs zu Ende ging. Diesmal nahmen nur 14 Staaten an der Konferenz teil, und der einzige Vorschlag von Bedeutung für die Emigran­ten, nämlich daß Ausweisungen nur unter ganz bestimmten Umständen möglich sein sollten, wurde abgelehnt. Die soziale Frage wurde jedoch zu­mindest teilweise behandelt. Es wurde beschlossen, daß die Emigranten nach dreijähriger Anwesenheit Arbeitserlaubnis erhalten und in der Benutzung der sozialen Einrichtungen den übrigen Bürgern ihres Aufnahmelan­des gleichgestellt werden sollten. Frankreich ratifizierte dieses Abkommen vom Februar 1938 erst 1945. Für die Flüchtlinge selbst brachten diese Beschlüsse wenig konkrete Ver­änderungen. Wie Grossmann berichtet, war Malcolm stolz, in 5 000 Ein­zelfällen geholfen zu haben. Das ist, an der Gesamtzahl gemessen, wenig.

Das Problem hatte jedoch begonnen, die internationale Presse zu beschäfti­gen, die die inadequaten Hilfsmaßnahmen des Hochkommissariats scharf kritisierte. Auf die Initiative Roosevelts hin fand am 6. Juli 1938 in Evian eine Konferenz statt, bei der 39 Länder vertreten waren. Die Delegationen von 39 privaten Hilfsorganisationen erschienen vor einer Sonderkommis­sion.

Die Eviankonferenz hatte unter den Flüchtlingen ungeheure Hoffnungen erweckt, und es dauerte einige Zeit, bis sie sich bewusst wurden, daß auch diese keine greifbaren Resultate erbracht hatte. Das einzige positive Ergeb­nis war die Gründung eines „Intergovernmental Committee for Refugees", dessen Aufgabe es war, die Arbeit der Konferenz „fortzusetzen und zu ver­wirklichen". Nach einer Weile stellte man fest, daß die Aufgabenbereiche des Flüchtlingsamtes von Lausanne und des „Intergovernmental Committees for Refugees" identisch waren, und die beiden Organisationen wurden zusammengelegt. Den Vorsitz führte von nun an Sir Herbert Emerson, der Malcolm in seinem Posten als Hochkommissar abgelöst hatte. Die Arbeit des „Intergovernmental Committees" erwies sich als ebenso unfruchtbar wie die des Hochkommissariats für deutsche Flüchtlinge. Sie ist der Aus­druck der allgemeinen internationalen Gleichgültigkeit für das Schicksal der Naziverfolgten, die für so viele von ihnen verhängnisvoll werden sollte. Nur vor diesem Hintergrund ist die besondere Lage der deutschen Emigra­tion in Frankreich zu begreifen.

Die Lebensbedingungen der Emigranten in Frankreich zwischen 1933 und 1939

Zum Problem der Emigration

Bevor wir einen Überblick über die verschiedenen Epochen geben, die die Emigration in Frankreich gekannt hat, wollen wir kurz drei prinzipielle Probleme erörtern, die zu ihrem Verständnis unerlässlich sind. In einem kurzen historischen Abriss erläutern wir Frankreichs Rolle als traditionelles Asylland. Anschließend schildern wir seine Asylrechtpolitik zwischen 1933 und 1938 auf dem Hintergrund der oben beschriebenen wirtschaftlichen und politischen Lage. Wir beschließen dieses einleitende Kapitel mit eini­gen allgemeinen Überlegungen zum Flüchtlingsproblem.

Frankreich als Asylland

Frankreich war seit dem 19. Jahrhundert das klassische Asylland Europas, das seine Grenzen immer wieder ohne Rücksicht auf Herkunft und Welt­anschauung den politischen Flüchtlingen geöffnet hatte. Zur Erklärung die­ses Phänomens lassen sich zwei wesentliche Gründe anführen, der eine Grund wirtschaftlicher, der andere ideologischer Art: Erstens war Frank­reich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein stark unterbevölkertes Land, das Fremdarbeiter brauchte. Zweitens existierte seit der Revolution von 1789 eine wahrhaft liberale Tradition, die sich über die Verschiedenartigkeit der Regime hinweg bis heute erhalten hat. Frankreich ist eines der wenigen Länder, das alle internationalen Konventionen über Flüchtlinge unterzeich­net hat, und mehrere dieser Konventionen wurden auf Vorschlag seiner Delegierten hin verfasst. Dies soll allerdings nicht besagen, daß diese Prinzi­pien in der Praxis immer zur Anwendung gebracht wurden. Vor dem 2. Weltkrieg lebten ca. drei Millionen Ausländer in Frankreich, d.h. 5-7% der Gesamtbevölkerung. Es handelte sich dabei großenteils um Industrie- und Landarbeiter sowie (unter den Italienern und Polen) um zahlreiche Bergbauarbeiter. Die Emigrationswellen der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts — mehr als eine Million Weißrussen nach 1917, die armenische und die italienische Emigration der zwanziger Jahre - wurden von Frankreich mühelos absor­biert. 1933 hatte sich die Lage geändert.

Die französische Asylrechtpolitik zwischen 1933 und 1938

Wenn die früheren, zahlenmäßig weit stärkeren Emigrationen in Frankreich eine so ungleich bessere Aufnahme fanden als die deutsche, so hat dies außer den bereits angeführten, für ganz Europa gültigen Gründen — die Auswirkung der Weltwirtschaftskrise und die Furcht vor dem politischen Druck Hitlerdeutschlands - auch noch ausschließlich für Frankreich zu­treffende innenpolitische Ursachen.

In mancher Hinsicht war die weißrussische Emigration das genaue Gegen­teil der deutschen. Sie genoss die Sympathie der herrschenden Gesellschafts­schicht des Aufnahmelandes, die sich mit ihr solidarisch fühlte. So wurden alle Aufenthaltsfragen denkbar großzügig geregelt. Die deutsche Emigration hingegen stieß auf die Opposition gut organisierter faschistischer oder reak­tionärer Gruppen, die sich damals schon als offene Anhänger Hitler­deutschlands erklärten. Die Pressekampagne gegen die Neuankömmlinge, die als Unruhestifter und Kriegshetzer hingestellt wurden, tat das ihre. Außerdem belastete die Tatsache, daß 80% der Flüchtlinge Juden waren, deren Ausgangsposition: Der Antisemitismus war damals in Frankreich, diffus oder auch schon offen und aggressiv, in allen Schichten verbreitet. Eine Änderung in der französischen Asylrechtpolitik trat erst mit der kur­zen Epoche der Volksfrontregierung ein. Obwohl die faschistischen und antisemitischen Tendenzen weiterhin aktiv blieben, war ihr Einfluss für eine gewisse Zeit neutralisiert. Wie H.A. Walter vermerkt, kann man „Pa­rallelen zwischen der Behandlung der Exilierten und den übergeordneten politischen Intentionen der jeweiligen Regierungen" feststellen. „Wie eine dezidiert antifaschistische Politik vergleichsweise humane Asylpolitik im Gefolge hatte, waren Appeasement oder vermeintliche Neutralität von Restriktionen begleitet."[11]

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich die Aufnahme der Flüchtlinge zwischen 1933 und 1939 in Frankreich dem politischen Regime entspre­chend geändert hat, gewisse Tendenzen, die aus der spezifischen politischen und wirtschaftlichen Situation dieser Jahre erwuchsen, jedoch gleich blie­ben. Insgesamt war die Aufnahmebereitschaft geringer als für alle vorange­gangenen Emigrationswellen dieses Jahrhunderts. Andererseits hat Frank­reich bis zum Ende, und auch in seiner fremdenfeindlichsten Phase nach dem Sturz der Volksfrontregierung, das Prinzip des Asylrechts beibehalten. Die­ses Prinzip wurde expressis verbis in der Präambel zu dem Dekret vom 2. Mai 1938 bestätigt. Noch kurz vor dem Krieg, nach dem Anschluss Österreichs und dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei, öffne­te Frankreich den Flüchtlingen seine Grenzen.

Das Flüchtlingsproblem

Unabhängig von der politischen und wirtschaftlichen Konjunktur stellt der Flüchtling für das Bewusstsein der Einheimischen immer eine Art Skandal­fall dar, der in der Bevölkerung ambivalente Reaktionen hervorruft. Man fühlt einerseits Mitleid mit ihm und andererseits Ablehnung, in jedem Fall aber Misstrauen.

Der Flüchtling ist ein Element der Unstabilität, ein Symbol des Fremdartigen und der Isolation. Was ihn kennzeichnet, ihn zu einem gewissen Phänomen macht: Er ist in jeder Hinsicht schwächer, da unbeschützter Bürger des Aufnahmelandes, und schwächer auch als alle anderen Auslän­der, die legal dort leben. Der Flüchtling hat meist eine juristisch fragwürdi­ge Existenz, und er ist nicht selten mittellos, d.h. wirtschaftlich und sozial unerwünscht. Er ist ein Außenseiter - in seinem Heimatland, das er verlas­sen musste, und in dem neuen Land, zu dem er noch nicht gehört. Außen­seitern traut man nicht, und im allgemeinen wird dem Recht gegeben, der an der Macht ist. Der Flüchtling wird deshalb leicht als ein politischer Un­sicherheitsfaktor angesehen. Er ist ein Ausländer, der sein Heimatland nicht mehr repräsentiert — aber aus welchem Grund? Der häufig gezogene Schluss ist, daß er sich aus Mangel an Loyalität in seine wenig beneidenswerte Lage gebracht hat, daß er letztlich ein Vaterlandsverräter ist, also auch ein potentieller Verräter der neuen Heimat. Daher auch die übertrie­bene, immer wieder auftretende Furcht vor Spionen, die „Hysterie vor der fünften Kolonne", der wir gerade im Frankreich der dreißiger Jahre immer wieder begegnen.

Der Flüchtling ist bei seiner Ankunft gewöhnlich nicht in der Lage, durch sein Verhalten das an ihn herangetragene Misstrauen abzubauen. Da er oft ohne Ausweise und ohne Geldmittel ist, muss sein erster Kontakt mit den Behörden ein Konflikt sein - der ihn in seiner ohnehin fragilen psychi­schen Lage noch unsicherer macht. Plötzlich ist er zum „no-where-man" geworden, der nirgends mehr hingehört. Er kennt die Sprache des Gast­landes nicht oder nur mangelhaft, und er muss gleichzeitig eine neue wirt­schaftliche und soziale Existenz gründen und dabei versuchen, in irgend­einer Weise seine Identität zu wahren. Für den jüdischen Emigranten der dreißiger Jahre war dies ein besonderes Problem: Der Nationalsozialismus machte eine weitere Identifizierung mit dem Herkunftsland unmöglich, bevor noch eine neue Zugehörigkeit entstehen konnte.

Die Aufnahme

Die Lebensbedingungen der deutschen Flüchtlinge in Frankreich wurden durch die Reaktion von vier verschiedenen Gruppen entscheidend be­stimmt:

durch die Haltung der französischen Regierung und Opposition;

durch die Haltung der französischen Bevölkerung;

durch die Haltung des französischen Judentums und der in Frankreich ansässigen emigrierten Juden;

durch die Reaktion der Emigranten selbst.

Es schien uns logisch, die Aufnahme der deutschen Flüchtlinge in Frank­reich - die Schwierigkeiten, an denen sie sich stießen und auch die Er­leichterungen, die ihnen durch gewisse Besonderheiten in der Mentalität der französischen Behörden zuteil wurden — anhand einer Analyse der Haltung dieser vier Gruppen zu schildern.

Ausreise und Flucht

Einige Worte zur Ausreise oder Flucht aus Deutschland, bevor wir von der Aufnahme in Frankreich sprechen. Wir nennen Flucht und Ausreise nicht ohne Grund in einem Atemzug. Zwar sind nicht alle Emigranten geflohen, besonders nicht in den ersten Jahren nach 1933, doch verlegte man von Anfang an seinen Wohnsitz nicht unkontrolliert ins Ausland, d.h. eine nor­male Ausreise, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Mit der vierten Not­verordnung vom 8. Dezember 1931, also schon vor Hitlers Machtergreifung, war eine Auswanderungssteuer, die sogenannte Reichsfluchtsteuer, einge­führt worden, die 25% des Gesamtvermögens für den Fiskus einbehielt.

Was die politischen Gegner des nationalsozialistischen Regimes betrifft, so wollte man ihre Flucht mit allen Mitteln verhindern, und schon vor dem Reichstagsbrand kontrollierten SA- und SS-Patrouillen die Bahnhöfe in Berlin und in anderen großen Städten. In den nächsten Monaten wurde auch die Grenzüberwachung wesentlich strenger, und immer mehr promi­nente Antifaschisten beschlossen, das Land illegal zu verlassen. Die Ein­führung eines Sichtvermerkes für Auslandsreisen Anfang April 1933 legali­sierte dann die staatliche Kontrolle. Diese Bestimmung wurde jedoch zum 1. Januar 1934 wieder aufgehoben. Laut Walter war „genau das schon ein­getreten, was mit der Ausreisebeschränkung hatte verhindert werden sol­len: die politischen, publizistischen und kulturellen Institutionen der unter­drückten Opposition hatten sich im Exil neu gebildet".[12]

Dies galt jedoch vornehmlich für die politische Emigration. Die jüdische wurde vom Hitlerregime in den ersten Jahren eher gefördert, und die Aus­wanderer konnten sogar einen großen Teil ihrer Habe aus Deutschland her­ausbringen. Wie Andreas Walter Kraft in der Emigrantenzeitung „Pariser Tageblatt" schreibt[13], konnte ein Großteil der Emigranten zumindest wäh­rend einer gewissen Zeit aus eigenen Mitteln ihren Unterhalt bestreiten. Die ersten zwei bis drei Jahre nach 1933 sind ferner dadurch charakterisiert, daß in den meisten europäischen Ländern noch keine Einreisebeschränkun­gen bestanden: Die Auswanderer konnten sich ihr Aufnahmeland weit­gehend aussuchen.

Die Rechtslage der Emigranten: Aufenthaltsbestimmungen

Den französischen Aufenthaltsbestimmungen in den dreißiger Jahren lag noch das Fremdengesetz vom 3. Dezember 1849 zugrunde. Jeder Fremde musste innerhalb von acht Tagen nach seiner Ankunft beim Präfekten des betreffenden „départements" eine Aufenthaltsgenehmigung (carte d'iden­tité) beantragen. Ein Franzose, der einen Fremden aufnahm, hatte dies innerhalb von 24 Stunden zu melden. Die Präfekten, die direkt dem Innen­minister unterstellt sind, konnten ohne Angabe von Gründen die Aufent­haltsgenehmigung verweigern, selbst wenn alle notwendigen Papiere vor­handen waren. Sie konnten auch die Verlängerung ablehnen oder einen bereits bewilligten Ausweis wieder entziehen, wenn deren Inhaber aus irgendeinem Grunde unter die Kategorie der „indésirables", d.h. der Un­erwünschten, fiel. Wir werden im Zusammenhang mit den Ausweisen auf diese Maßnahme noch zurückkommen müssen.

Der Ausweis wurde auf drei Jahre ausgestellt und war nur für ein Departe­ment gültig. Ein Flüchtling, dem die Aufenthaltsgenehmigung verweigert oder wieder entzogen wurde, hatte keine Möglichkeit, gegen die Entschei­dung des Präfekten Einspruch zu erheben. Einem Urteil der „Cour de Cassation", dem obersten französischen Gerichtshof, zufolge, betrafen in der Tat Aufenthaltsfragen von Ausländern die „öffentliche Ordnung" und fie­len damit ins Ressort der Polizei, nicht aber der Gerichte.

Für die außerordentliche Härte dieser Gesetzgebung gibt es eine historische Erklärung. Die Gesetze traten ein Jahr nach der Revolution von 1848 in Kraft, bei der ausländische Revolutionäre eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Die reaktionäre und bourgeoise französische Regierung wollte auf diese Weise die Ausweisung von fremden „Unruhestiftern" ermöglichen.

Während eines dreiviertel Jahrhunderts fanden diese Bestimmungen nur eine sehr lasche Anwendung. Besonders nach dem ersten Weltkrieg zielte die französische Politik aus demographischen Gründen auf die Assimilie­rung von Fremden hin. Laut Walter konnten Deutsche noch 1932 eine „carte d'identité" sehr schnell und ohne Schwierigkeiten erhalten.

Wie überall in Europa änderte sich auch in Frankreich die Aufnahmepolitik mit der Wirtschaftskrise. Flüchtlinge mit einer „carte d'identité" wurden bald zur Ausnahme. In den meisten Fällen erhielten sie schon Ende 1934 lediglich „récépissés" Empfangsbescheinigungen), die drei Monate lang gültig waren und den Emigranten 100 francs plus 4 francs Stempelpapier kosteten.

Das Jahr 1934 ist in Frankreich noch dazu von einer starken Welle der Xenophobie gekennzeichnet. Während der Einfluss faschistischer Gruppen wie die „Croix de feu" ständig wuchs, verschaffte der Skandalfall des ru­mänischen Hochstaplers Alexandre Stavisky den antisemitischen und frem­denfeindlichen Kampagnen das erwünschte Material: Stavisky war Jude. Mehrere Minister des Kabinetts Daladier waren durch die — übrigens nie­mals vollends aufgeklärte — Affäre stark kompromittiert, und die Regie­rung mußte zurücktreten. Die Folge war eine ungeheure Ausweisungs­welle, da ein großer Teil der öffentlichen Meinung sich durch die Rechts­presse hatte überzeugen lassen, daß die Schuld an allem Übel bei den Frem­den läge.

Im Laufe des Jahres 1934 verschlechterte sich die Lage für die Emigranten so sehr, daß diese die Ereignisse nach der Stavisky-Affäre noch als beinah harmlos empfanden im Vergleich mit dem was folgte. Im Oktober 1934 ermordeten kroatische Nationalisten, die dem faschistischen Geheimbund Ustascha angehörten, den zu einem Staatsbesuch in Marseille weilenden jugoslawischen König. Der französische Außenminister Barthou im gleichen Wagen kam ebenfalls um. Die französische Polizei reagierte auf diesen Mord mit einer Reihe brutaler Aktionen gegen Ausländer. Obwohl die Gerichts­verhandlung zeigte, daß die Attentäter vom Deutschen Reich zumindest mittelbar unterstützt worden sein mussten und daß ihre Pässe aus einer deutschen Fälscherwerkstatt stammten, wurden viele deutsche Emigranten des Landes verwiesen.

Es gab in Frankreich während jener Jahre zwei Formen von Ausweisung. Die mildere Maßnahme war der Aufenthaltsentzug („refoulement"), bei dem der Emigrant vom Präfekten des départements, in dem er ansässig war, die Anweisung erhielt, das französische Territorium zu verlassen. Es wurde ihm eine gewisse Frist gesetzt, um seine Abreise zu organisieren. Diese Frist konnte verlängert werden, und zahlreiche Flüchtlinge lebten Mitte der dreißiger Jahre mit einem „ordre de refoulement" als einzigem gültigen Ausweis. Theoretisch konnte man nach einem „refoulement" mit einem gültigen Visum jederzeit wieder nach Frankreich zurückkehren.

Die zweite Form der Ausweisung war die „expulsion". Es handelte sich da­bei um eine Anordnung des Innenministers, die der Betroffene innerhalb von 24 Stunden zu befolgen hatte. Diese Ausweisung war endgültig und konnte nur durch einen Erlass des Innenministers widerrufen werden. Die Nichtbefolgung eines Expulsionsbefehls wurde mit Gefängnis zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft. Da die Emigranten nur in den sel­tensten Fällen über gültige Papiere verfügten, sie in ihre Heimat nicht zu­rückkehren konnten und kein Land sie aufnehmen wollte, war es ihnen häufig technisch unmöglich, dieser Aufforderung nachzukommen. Jacques Vernant[14] zitiert den absurden Fall eines Italieners, „der, weil er zu einem Tag Gefängnis verurteilt worden war, die Anweisung erhalten hatte, das Land zu verlassen. Er wurde anschließend 29 Mal wegen Nichtbefolgung des Ausweisungsbefehls verurteilt und büßte insgesamt eine Gefängnis­strafe von neun Jahren und acht Monaten ab". Da der Ausweisungsbefehl durch die Gefängnisstrafe nicht aufgehoben war, fand sich der Betroffene nach seiner Entlassung vor der gleichen Unmöglichkeit wie vorher, und meistens kehrte er rasch wieder ins Gefängnis zurück - es sei denn, die Behörden „vergaßen" ihn für einige Zeit.

Die Gründe für einen Ausweisungsbefehl waren vielfältig und unberechen­bar. In der Emigrantenzeitschrift „Gegenangriff" heißt es im Artikel „Nachtrag zur carte d'identité" vom 24. März 1934: „Unerwünschte politische Betätigung, strafbare Handlungen oder Betteln, unerlaubte Arbeit oder Zeitungsverkauf, wirtschaftliche Not und Inan­spruchnahme französischer Wohlfahrtseinrichtungen, aber auch allgemeine Gründe können dazu führen, daß die Préfecture die Ausweisung eines Emi­granten als lästiger Ausländer verfügt."

Eines der häufigsten Motive für einen der Ausweisungsbefehle bildete die Unmöglichkeit für viele Emigranten, genügende und von den französischen Behörden anerkannte Papiere vorzuweisen. Da die abgelaufenen Pässe vom deutschen Konsulat in Paris nicht verlängert wurden, waren mit der Zeit fast alle Emigranten ohne gültige Papiere. Die zahlreichen Flüchtlinge, die illegal über die Grenze gekommen waren, weil sie sich in ihrer Heimat in unmittelbarer Gefahr befunden hatten, besaßen zudem kein Einreisevisum. Sie hatten in Frankreich die Verpflichtung, sich am nächsten Grenzposten als politischer Flüchtling auszuweisen und Asylrecht zu beantragen. Ihre Erklärungen wurden daraufhin von der Grenzpolizei dem Innenministe­rium übermittelt, dem die endgültige Entscheidung in jedem einzelnen Fall vorbehalten blieb. Die meisten Flüchtlinge wussten bei ihrem Grenzüber­tritt jedoch nichts von diesen Bestimmungen oder befürchteten, wieder nach Deutschland abgeschoben zu werden. In der Tat sind einige Fälle von Auslieferungen bekannt.

Außer der „expulsion" und dem „refoulement" gab es noch den „refus de séjour" (Aufenthaltsverweigerung), der in der prekären Lage der dreißiger Jahre unter den Emigranten fast als Privileg galt. Es handelte sich dabei um die Verweigerung einer „carte d'identité" durch einen Präfekten, gegen die beim Innenministerium Berufung eingelegt werden konnte. Bis eine Ent­scheidung getroffen wurde, durfte der Antragsteller im Ort bleiben, musste sich jedoch gewöhnlich einmal in der Woche bei der Polizei melden.

Nachdem die Ausweisungswelle bereits mehrere Monate gedauert hatte, fand am 29. Januar 1935 auf Initiative der Sozialisten eine Kammerdebatte über das Asylrecht statt. Die Sache der Emigranten wurde lediglich von den Sozialisten und den Kommunisten vertreten, während die Rechtsparteien auch vor dem Parlament ihre fremdenfeindliche Hetze fortsetzten und das Zentrum versicherte, alles stünde zum Besten. Für die Regierung sprach Edouard Herriot und bestätigte erneut die „Unverletzbarkeit des Asyl­rechts".

Für die Emigranten trat nach der Kammerdebatte keine unmittelbare Ver­änderung ein. Dennoch war ein Teil der Presse und der öffentlichen Mei­nung dadurch für das Flüchtlingsproblem sensibilisiert worden, und die Proteste über die skandalOSEn Maßnahmen einiger Präfekten häuften sich. Langsam flaute die Ausweisungswelle ab.

Eine spürbare Verbesserung der Rechtslage der deutschen Flüchtlinge er­folgte jedoch erst mit der Volksfrontregierung. Kurz nach dem Regierungs­antritt von Léon Blum trat Frankreich der Völkerbundkonvention bei und gehörte zu den ersten Staaten, die das Abkommen ratifizierten. Am 19. September 1936 wurde ein Dekret erlassen, in dem die Aufenthaltsbe­stimmungen für Ausländer neu geregelt wurden. Es hatte ab 5. Juli 1936 rückwirkend Gültigkeit und führte den von der Völkerbundkonvention vor­geschriebenen Interimspaß oder „titre d'identité et de voyage pour réfugiés provenant d'Allemagne" ein. Alle Emigranten, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 5. August 1936 in Frankreich eingetroffen waren und unter den von der Konvention definierten Flüchtlingsstatus fielen, hatten Anrecht auf diesen Ausweis.

Diese Bestimmungen fanden während der kurzen Zeit der Volksfrontregie­rung eine sehr großzügige Anwendung. Um in strittigen Fällen darüber zu entscheiden, wer ein bona fide Flüchtling war, wurde ein „Comité consultatif" gegründet, in dem Franzosen und deutsche Flüchtlinge zu paritäti­schen Anteilen vertreten waren. Vorsitzender des Komitees war der Staats­sekretär im Außenministerium, Pierre Vienot. Die Bedeutung dieser Ein­richtung wird klar, wenn man sich vor Augen hält, daß hier zum ersten Mal ein Land für eine Aufgabe, die die Staatssicherheit impliziert, Flüchtlinge mit heranzieht.

Die innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen die Volksfrontregierung zu kämpfen hatte, belasteten die Arbeit des Komitees. Zwar prüfte es während der kurzen Zeit seines Bestehens Tausende von Fällen, doch wurde nur 6 522 von den insgesamt etwa 30 000 zu dieser Zeit in Frankreich ansässigen deutschen Flüchtlingen der Flüchtlingsstatus zuerkannt.

Der Sturz der Volksfrontregierung 1937 brachte eine radikale Änderung in der französischen Asylpolitik mit sich. In den folgenden Jahren wurde die fremdenfeindlichste Gesetzgebung erlassen, die die dritte Republik je ge­kannt hatte. Für die Flüchtlinge in Frankreich begannen Jahre äußerster Schwierigkeiten. Am 2. Mai 1938 trat ein Dekret in Kraft, durch das jeder Verstoß gegen die Aufenthaltsregelungen zu einem strafrechtlichen Ver­gehen wurde, auf das hohe Geld- und Freiheitsstrafen standen. Gleich­zeitig — und das zeigt die ambivalente Haltung, die damals in Frankreich den Flüchtlingen gegenüber typisch war — enthielt es eine Kodifizierung des Asylrechts und den Beschluss, „höhere Gewalt" künftig als eine hinrei­chende Entschuldigung für die Nichtbefolgung eines Ausweisungsbefehls gelten zu lassen. Ein Flüchtling, der Frankreich nicht verlassen konnte, weil kein anderes Land ihn aufnehmen wollte, mußte nicht mehr ins Ge­fängnis. Er wurde, gewöhnlich auf dem Land, unter polizeiliche Überwa­chung gestellt und hatte weder Arbeitserlaubnis noch Bewegungsfreiheit. Dies war das erste Mal, daß man deutschen Flüchtlingen eine Zwangsresidenz zuwies - eine Maßnahme, die, wie wir sehen werden, von da an in Frankreich sehr häufig angewandt wurde.

Die Wirtschaftslage der Emigranten

Nach der Aufenthaltsgenehmigung galt die erste Sorge des Emigranten der Arbeitserlaubnis. In Wahrheit waren die beiden Probleme gekoppelt, da man die „carte d'identité" gewöhnlich nur dann erhielt, wenn man bewei­sen konnte, daß man selbst für seinen Unterhalt aufkommen konnte. Der französische Innenminister Marcel Régnier hatte dies während der Kammer­debatte vom Februar 1935 unverschleiert gesagt: "In dieser Hinsicht (ist) unsere These vollkommen klar und fest umrissen: alle, die die Arbeitskarte haben, können bleiben; wer sie nicht hat, muss das Land verlassen."[15]

Die „carte de travail" (Arbeitserlaubnis) war in Frankreich durch den Erlass vom 2. August 1926 eingeführt worden. Der Antragsteller musste, um sie zu erhalten, ein medizinisches Attest und einen Arbeitsvertrag vorlegen, der vom „office de la main d'oeuvre étrangère" (Büro für Fremdarbeiter) gebilligt war. Noch in den zwanziger Jahren erhielten Ausländer die Ar­beitskarte ohne Schwierigkeiten, doch während der Wirtschaftskrise ver­schärften sich die Bestimmungen, und in einem Erlass vom 10. August 1932 wurden zum ersten Mal Quoten für ausländische Arbeiter festgesetzt. Diese variierten mit den Bedürfnissen der verschiedenen Unternehmen und Be­rufszweige, doch war die Zahl der zulässigen Ausländer gewöhnlich auf 10% des Gesamtpersonals beschränkt.

Diese Bestimmungen galten nicht für die handwerklichen Berufe, die den Emigranten noch einige Jahre offen standen. So gab es Anfang der dreißi­ger Jahre in Paris unter den deutschen Flüchtlingen und vor allen Dingen unter den Emigranten aus Osteuropa zahlreiche „Façonarbeiter", die vor­nehmlich in den „jüdischen Berufen" arbeiteten, wie in der Pelz- und Kleiderbranche. Oft beteiligte sich die ganze Familie daran. David Wein­berg[16] schildert, wie in den kleinen Emigrantenwohnungen Vater, Mutter und ein oder zwei Kinder Tag und Nacht mit dem Zuschneiden und Nähen von Kleidungsstücken beschäftigt waren. Die „Façonarbeiter" wurden nach der abgelieferten Stückzahl, und nicht nach Stunden, bezahlt und waren sozial vollkommen ungesichert. Da sie auf diese Weise erheblich bil­liger arbeiteten als die Fabriken, zogen sie sich den Groll der Gewerkschaften und der einheimischen Arbeiterschaft zu. Die Tatsache, daß es sich auf der einen Seite um Emigranten und auf der anderen Seite um Franzosen handelte, verschärfte noch die Spannung. Um diesen Unliebsamkeiten ein Ende zu bereiten und in Zeiten wirtschaftlicher Flaute Kontrolle über den Zugang der Emigranten zu den handwerklichen Berufen zu gewinnen, führte Laval 1935 durch ein Dekret die „carte d'artisan", eine Art Gewer­beausweis, ein.

Dadurch war der französische Arbeitsmarkt für die Flüchtlinge praktisch geschlossen. Vermögenden Emigranten blieb die Möglichkeit, sich einen Platz in Industrie und Handel zu schaffen. Da die französische Regierung an neuem Unternehmertum interessiert war, konnten die Emigranten eine „carte de commerçant" eine Zeit lang relativ leicht erhalten. Dennoch wa­ren die Versuche bemittelter Emigranten, Geschäfte zu erwerben oder Fabriken zu gründen, nur in den seltensten Fällen erfolgreich. Die Un­kenntnis der französischen Sprache stellte für die meisten eine unüberwind­liche Schwierigkeit dar, und da sich der französische Arbeitsmarkt in vielen Dingen vom deutschen unterschied, begingen manche von ihnen verhäng­nisvolle Irrtümer. Es sind daher auch nur einige Fälle bekannt, in denen sich Unternehmungen dieser Art als lebensfähig erwiesen haben, z.B. eine deutsche Schuhfabrik sowie ein aus 20 deutschen Männern und Frauen be­stehendes Arbeiterkollektiv, das in Saint-Maur Spielzeug produzierte.

Unter den deutschen Hitlerflüchtlingen befand sich ein hoher Prozentsatz von Intellektuellen, deren Lage naturgemäß besonders schlecht war, da sie auf die Sprache als Ausdrucksmittel angewiesen waren. Hinzu kommt, daß Frankreich für ausländische Intellektuelle in Bezug auf Arbeitsplätze ein besonders schlechter Boden war. Nach Angaben eines vom „British Academic Research Council" ausgearbeiteten Berichts konnten von 700 emi­grierten Universitätsprofessoren, die in verschiedenen Gastländern (beson­ders in den USA und in Großbritannien) untergekommen waren, nur 44 in Frankreich bleiben. Als typischer Fall kann Albert Einstein genannt wer­den, der nach langem Hin und Her aufgrund eines undurchsichtigen Intri­genspiels die ihm zunächst angebotene Professur am Collège de France schließlich nicht bekam.

Für Juristen und Mediziner kam noch erschwerend hinzu, daß die deut­schen Examen in Frankreich nicht anerkannt waren. Um ihren Beruf aus­üben zu können, hätten sie alle Prüfungen vom Abitur an nachholen müs­sen, was nur die jüngsten und wohlhabendsten sich leisten konnten. So hatten die Emigrantenärzte und -Juristen nur die Wahl, den Beruf zu wech­seln oder schwarz zu arbeiten. Viele deutsche Ärzte nahmen schlecht be­zahlte Vertretungen in französischen Krankenhäusern an oder übten paramedizinische Berufe wie Masseur oder Krankenpfleger aus. Einige Rechts­anwälte kamen als Hilfskräfte in französischen Büros unter.

Dies waren jedoch Glücksfälle, und viele Emigranten hatten weder eine Arbeitserlaubnis noch die Möglichkeit zur Schwarzarbeit. Zur Berufs­umschulung - auf dem französischen Arbeitsmarkt wurden in den dreißi­ger Jahren Bergarbeiter und Landwirte gebraucht — waren nur die wenig­sten fähig und viele auch nicht willens. Gerade unter den Intellektuellen zeigten viele einen bemerkenswerten Mangel an Anpassungsfähigkeit. In zahlreichen Memoiren werden die „Emigrantencafés" geschildert, in denen die Männer untätig herumsaßen und den Tag mit politischen Diskussionen verbrachten. Die Frauen erwiesen sich in vielen Fällen als flexibler, und oft waren sie es, die durch Putzen oder Näharbeiten die Familie über Wasser hielten. Gewöhnlich ertrugen sie auch den sozialen Abstieg besser als die Männer - ein Thema, auf das wir hier nicht eingehen können, doch das einer eigenen Untersuchung wert wäre.

Die private Hilfe

Wie wir gesehen haben, befanden sich bereits 1933 viele deutsche Flücht­linge in einer wirtschaftlich aussichtslosen Lage und waren auf die Unter­stützung von Hilfskomitees angewiesen. Die Arbeit der privaten Hilfs­organisationen während der Nazizeit kann als einmalig angesehen werden. Noch nie vorher in der Geschichte waren privat so beträchtliche Summen für die Hilfe von Flüchtlingen aufgebracht worden, noch nie hatte sich die Arbeit dieser Organisationen, die im allgemeinen auf reine Wohltätigkeit eingerichtet waren, auf einen so großen Aufgabenbereich erstreckt. Tartakower schreibt in diesem Zusammenhang in seinem Buch „The Jewish Refugee"[17]: „Es gibt kaum ein Problem im Leben des Flüchtlings, das von diesen Organisationen nicht angepackt worden wäre. Sie haben nicht nur versucht, den Flüchtlingen zu helfen, sogar noch ehe sie die Heimat verließen, dann während der Reise und schließlich im neuen Land, sondern sie entfalteten auch bedeutende politische und gesellschaftliche Aktivitäten, wie sie gewöhnlich nur von den Behörden unternommen werden können."

Die private Hilfe erzielte dort ihre bemerkenswertesten Leistungen, wo die offizielle internationale Hilfe versagt hatte, die letztlich von dem guten Willen oder Unwillen der Regierungen abhing. Zunächst bestanden noch keine adäquaten Strukturen für das Hilfswerk. Jede Organisation arbeitete für sich, und viele Anstrengungen und Gelder wurden durch parallele Ak­tionen und unzulängliche Methoden vergeudet. Doch im Laufe der Jahre änderte sich das, und zahlreiche Flüchtlinge haben einzig mit Hilfe der Komitees den Krieg überleben können.

Es gab in Frankreich in den dreißiger Jahren zwei Arten von Hilfsorganisa­tionen. Die einen - und das war die Mehrzahl - beschränkte sich auf die karitative Hilfe und versuchte, durch Spenden, Ausgabe von Kleidern, freie Mittagstische und Wohnungsbeschaffung die materielle Not der Flüchtlinge zu lindem. Die anderen leisteten eine sogenannte konstruktive Hilfe, die darauf zielte, den Emigranten in die Lage zu versetzen, mit der Zeit selbst für seinen Unterhalt aufkommen zu können.

Sowohl zeitlich als auch seiner Bedeutung nach an erster Stelle unter den privaten Hilfsorganisationen steht das „Comité National d'Aide et d'Accueil aux Réfugiés" (Nationales Aufnahme- und Hilfskomitee für Emigran­ten), das im April 1933 nach einer zu diesem Zweck einberufenen Sonder­sitzung der französischen jüdischen Organisationen unter dem Vorsitz von Baron Robert de Rothschild gegründet wurde. Der erste Präsident des Ko­mitees war der französische Wissenschaftler und Politiker Paul Painlevé. Nach seinem Tod wurde er durch den langjährigen Vertreter Frankreichs beim Völkerbund, Senator Henry Bérenger, ersetzt. Nach einer gewissen Zeit vereinigte sich die Organisation mit einigen anderen privaten Hilfsko­mitees unter dem Namen „Comité National de Secours aux Réfugiés Allemands Victimes de l’Antisémitisme". Generalsekretär blieb bis zum Ende seines Bestehens und über alle Struktur- und Namensänderungen hinweg Raymond-Raoul Lambert, der Mitarbeiter Edouard Herriots im Außenministerium. Das Comité National bezog in den ersten Jahren sein Budget aus den Spen­den der französischen Juden. Schon 1933 betreute es von allen Organisa­tionen die größte Anzahl von Flüchtlingen. Laut Baron Robert de Roth­schild wurden in diesem Jahr mehr als 6 000 Personen versorgt und über neun Millionen Francs gesammelt und verteilt. Die Organisation erhielt Zu­schüsse sowohl von der französischen Regierung als auch vom jüdischen HICEM (Organisation für jüdische Auswanderung). Das Geld aus Amerika war jedoch ausschließlich zur Weiterwanderung bestimmt.

Die Emigranten wurden zur Arbeit des Komitees zunächst nicht hinzuge­zogen, und sie hatten keinerlei Einspruchsrecht gegen deren Entscheidun­gen. Die Beziehungen zwischen den französischen Juden und den Neuan­kömmlingen waren, wie wir noch sehen werden, nicht die besten. Insofern war es unvermeidlich, daß zu Anfang teilweise schwere psychologische Fehler begangen wurden. Die deutschen Emigranten waren es nicht ge­wohnt, wie „Arme" behandelt zu werden, und als sich trotz der enormen Anstrengungen des Komitees auch die materielle Hilfe als ungenügend für den Einzelnen erwies, wuchs die Unzufriedenheit. Der Flüchtling erhielt außer einer Mahlzeit und einem Hotelbett in einem meist deprimierenden Etablissement fünf Francs pro Tag und hatte dabei keine Aussicht, schnell Arbeit zu finden. Als ein völliger Misserfolg erwies sich die Unterbringung von etwa 800 Menschen in leer stehenden Kasernen im Süden von Paris. Viele gerieten durch die ungewohnte Enge, durch die Untätigkeit zu der sie verdammt waren und durch den völligen Mangel an Autonomie (ohne jedes Taschengeld) an den Rand der Hysterie.

Hinzu kommt, daß bereits nach einem Jahr für das Komitee Geldschwierig­keiten auftraten. Am 31. Juli 1934 stellte die wichtigste private Hilfsorga­nisation für Flüchtlinge in Frankreich ihre Arbeit ein. Während der Zeit ihres Bestehens hatte sie 12 bis 13 Millionen Francs verteilt, in 897 Fällen eine Stelle vermittelt und 2 000 Reisen finanziert, meist innerhalb Europas.

Da die Bedürfnisse der Flüchtlinge jedoch nicht nur nicht geringer wurden, sondern im Gegenteil ständig wuchsen und immer mehr Emigranten auf die Unterstützung der Hilfskomitees angewiesen waren, wurde das gesamte Wohlfahrtswerk in Frankreich bald neu strukturiert und reorganisiert. Inter­nationale ideologisch gebundene Organisationen entfalteten ihre Tätigkeit zugunsten bestimmter sozialer oder politischer Gruppen, wie die „Rote Hilfe" für die Kommunisten oder das „Matteotti-Komitee" für Mitglieder der Gewerkschaften oder der sozialdemokratischen Partei. Unter den humanitären Organisationen sind vor allem die „Liga für Menschenrechte" und die „Quäker" zu nennen, die hier und jetzt wie überall und immer große und wertvolle Hilfe leisteten. Kurz nach seiner Schließung erstand das „Comité National" neu unter dem Namen „Comité d'Assistance aux Réfugiés" (CAR), und entwickelte sich bald zur Dachorganisation der gesamten französischen Emigranten-Wohlfahrt. Dies war nur durch die Hil­fe des „American Joint Distribution Committees" möglich, der reichsten und erfahrensten jüdischen Wohlfahrtsorganisation der Welt.

Der „American Joint" hatte 1933 seine Berliner Zweigstelle geschlossen und nach Paris verlegt. Als durch den immer stärker werdenden Zustrom von mittellosen Flüchtlingen die französischen Hilfsorganisationen vor dem finanziellen Zusammenbruch standen, wandten sich die Führer der jüdi­schen Gemeinde an Bernhard Kahn, den europäischen Vertreter des „Joint". Nach langem Zögern, als die Franzosen schon damit gedroht hat­ten, ihre Komitees zu schließen, entschied sich der „Joint", seine Mittel für die Unterstützung der Emigranten in Frankreich mit zu verwenden. Zunächst zahlte der „Joint" für jeden in Frankreich gesammelten Franc einen Franc seines eigenen Geldes. Ab 1940 finanzierte er praktisch allein das gesamte jüdische Rettungswerk für Flüchtlinge in Frankreich.

Die Unterstützung des „Joint" ging, ebenso wie die des HICEM, an das Comité d'Assistance aux Réfugiés, der es an die Flüchtlinge weiterleitete. Der CAR war 1936 beim „Comité Consultatif pour les Réfugiés" im fran­zösischen Innenministerium vertreten. Im Juni 1940, als die Deutschen den Norden Frankreichs besetzten, verlegte die Organisation ihren Sitz nach Limoges und später nach Marseille. Im Jahre 1941 zählte sie 25 Zweigstellen und Unterkomitees in der „zone libre" (im unbesetzten Teil Frankreichs) und gab monatlich etwa 2500000 Francs für Unterstützun­gen aus. Zu den Mitgliedern zählen die eminentesten Vertreter des französischen Judentums sowie der in Frankreich ansässigen ostjüdischen Emi­granten, wobei der Großrabbiner Julien Weill, Maurice Liber, Prof. Oualid, Maurice Stern und andere die Franzosen vertraten und Jefroykon, der Vor­sitzende der mächtigen „Fédération des Juifs d'Europe de l'Est", die Ost­juden repräsentierte. Die deutschen Juden hatten ihren eigenen Delegierten im Privatbankier Hugo Simon, ehemaliger USP-Politiker und Reichsminister. Den Vorsitz des Exekutivausschusses des CAR hatte Albert Levy inne, und Generaldirektor war Gaston Kahn.

Die größte Anzahl von Emigranten traf in Frankreich in den Jahren zwi­schen 1936 bis 1939 ein. In dieser Zeit hielten sich dort ständig zwischen 50 und 60000 deutsche Flüchtlinge auf, die meisten mittellos, viele ob­dachlos, ohne Aufenthaltsgenehmigung und mit dem Wunsch, weiter aus­zuwandern. Das Jahresbudget des CAR von 1935 belief sich auf 120000 Dollars, das der Jahre 1939/40 auf 700 000 Dollars. In den ersten Monaten des Jahres 1939 wandten sich 20000 Flüchtlinge an den CAR, davon 6 200 Neuankömmlinge. Die Statistiken (einige der wenigen, die erhalten sind) zeigen, daß 60% von ihnen keine Aufenthaltserlaubnis besaßen und 30% bereits einen Ausweisungsbefehl erhalten hatten.

Autonom, jedoch in engem Kontakt mit dem CAR, arbeiteten die Komi­tees, die sich der „konstruktiven" Hilfe widmeten. Hierbei ist vor allen Dingen die ORT zu nennen (Organisation pour la Reconstruction du Travail), die bereits über langjährige Erfahrung in Polen und Russland verfügte. Sie hatte zahlreiche Zweigstellen in Osteuropa und bildete in den dreißiger Jahren ostjüdische Emigranten in Ausbildungszentren der Pariser Region für handwerkliche Berufe und Landwirtschaft aus. Die Organisation nahm auf Veranlassung des CAR, der die Plätze bezahlte, einige hundert deut­sche Flüchtlinge auf.

„Agriculture et Artisanat", später „Centre de reclassement professionnel" genannt, arbeitete eng mit dem französischen Erziehungsministerium zu­sammen und bildete ebenfalls einige deutsche Flüchtlinge aus, unter der Bedingung, daß sie sich verpflichteten, weiterzuwandern. Die Unkosten für ihre Ausbildung wurden von jüdischen Organisationen gedeckt.

Der CAR kontrollierte und finanzierte 1939 in Paris:

-     Das Comité de Documentation (Vorsitzender: Staatsrat Helbronner)

-     Das Comité des Oeuvres (Vorsitzender: Maurice Stern)

-     Die Entr'aide Sociale

-     Das Comité d'Assistance aux Émigrants (HICEM)
(Vorsitzender: Prof. Oualid)

-     Die ORT

-     Das Centre de Reclassement Professionnel (Leiter M. Chantal).

Außerdem waren dem CAR einige Flüchtlingszentren wie die Komitees von Nizza, Straßburg, Lyon usw. angegliedert.

Speziell der Kinderhilfe widmeten sich die ebenfalls vom CAR kontrollier­ten Organisationen OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) und die von Flüchtlingen selbst gegründete „Assistance médicale".

Die 1935 gegründete „Caisse Israélite de Démarrage Economique" (eine Darlehenskasse) sollte den Emigranten helfen, im Geschäftsleben Fuß zu fassen.

Ferner sind die zahlreichen Landsmannschaften und die Fachverbände zu nennen, in denen sich Emigrantengruppen zur Verteidigung ihrer speziellen Interessen zusammenschlossen. Aufgrund der politischen Uneinheitlichkeit der deutschen Emigration in Frankreich standen sich diese Organisationen oft feindlich gegenüber. Die beiden wichtigsten Landsmannschaften waren die „Fédération des Émigrants provenant d'Allemagne" und die „Fédéra­tion des Émigrants provenant d'Autriche", beide politisch neutral. Der ersteren waren unter anderen folgende Verbände angeschlossen:

-     Comité allemand, die französische Sektion der Liga für Menschenrechte

-     Service juridique pour les réfugiés allemands; juristische Beratungsstelle für deutsche Flüchtlinge

- Assistance médicale aux enfants d'émigrants; medizinische Hilfe für Emigrantenkinder

- Schutzverband deutscher Schriftsteller

- Verband deutscher Journalisten in der Emigration

- Association des émigrants israélites d'Allemagne en France, Vereinigung deutsch-jüdischer Emigranten in Frankreich

- Vereinigung emigrierter deutscher Juristen

- Notgemeinschaft deutscher Ärzte im Ausland

- Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland (Sektion Frank­reich)

- Aktionsausschuss für Freiheit in Deutschland.

Unabhängig vom CAR und zuweilen in Konflikt mit ihm wirkte das „Comité pour la défense des droits des Israélites en Europe Centrale et Orien­tale" (Komitee für die Verteidigung der Rechte der Juden aus Zentral- und Osteuropa), das sich auf die juristische Verteidigung der Flüchtlinge spezia­lisiert hatte. Der Vorsitzende war der ehemalige französische Minister Justin Godart, sein Generalsekretär Boris Gourevitch. Da beide über einflussreiche Beziehungen bei den französischen Behörden verfügten, arbeite­te das Komitee mit teilweise ungewöhnlichen Erfolgen.

Zionistisch inspiriert waren die Projekte für die landwirtschaftliche Ausbil­dung der Emigranten. Wenn in den meisten Fällen die Flüchtlinge für das Leben in Palästina geschult werden sollten, so hatten doch auch einige die­ser Ausbildungszentren die Gründung von Kollektiven auf französischem Boden zum Ziel. Diese Programme wurden vom französischen Landwirt­schaftsministerium wie auch von den Abgeordneten Pierre Vienot und Philippe Serre lebhaft begrüßt und unterstützt. Sowohl bei den jüngeren Emigranten als auch in den Kreisen der in Frankreich ansässigen Ostjuden fanden sie großen Anklang. Ein Vertreter des „American Joint" erklärte sogar zu diesem Thema, seine Organisation sei bereit, „größere finanzielle Anstrengungen" für die Verwirklichung dieser Projekte zu machen.

Völlig anders reagierten die französischen Juden, die von Anfang an heftig dagegen waren. Die Vorstellung beunruhigte sie aufs Tiefste, daß sich in einer Zeit des schwelenden Antisemitismus emigrierte Juden durch die Gründung von mehr oder weniger kommunistisch inspirierten Kollektiven bemerkbar machen und so in gewisser Weise dem ohnehin schon verbrei­teten Klischee „Jude = Bolschewik" Nahrung geben könnten. Die französischen Juden selber bemühten sich um eine Politik äußerster Diskretion. So schrieb der Generalsekretär des CAR und später der UGIF (Union Géné­rale des Israélites de France), Raymond-Raoul Lambert, bereits 1934 im „Pariser Tageblatt": „Die Erfahrung hat gezeigt, daß es gefährlich wäre, an weitere Versuche von Kollektivsiedlungen in Frankreich zu denken. Tech­nische, politische und psychologische Schwierigkeiten, ganz abgesehen von den amtlichen Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen, haben die Durchführung dieser Projekte als unmöglich erwiesen. Sie konnten nur in völliger Unkenntnis der französischen Verhältnisse unternommen wer­den."[18]

Es bleibt zu vermerken, daß Lambert dies schrieb, bevor diese Unterneh­men scheiterten. In der Tat stießen einige von ihnen auf unüberwindliche materielle Schwierigkeiten. Andere jedoch konnten sich einige Jahre lang halten und wurden erst 1940 von der deutschen Besatzungsmacht oder von den Vichybehörden geschlossen.

Interessanter als die Projekte selbst, deren Bedeutung wegen der kleinen Anzahl der teilnehmenden Emigranten gering blieb, ist die Reaktion der französischen Juden darauf. Es handelt sich hierbei nur um ein Beispiel der tief greifenden Differenz zwischen den beiden Gruppen, die Ausdruck einer unterschiedlichen Lebenshaltung und eines unterschiedlichen Selbstver­ständnisses ist.

Die Haltung der französischen Juden den Emigranten gegenüber

Die Haltung der französischen Juden den Emigranten gegenüber, wie man sie während der dreißiger Jahre beobachten kann, ist nur ein Aspekt eines größeren Problems, das nichts mit den beiden Nationalitäten zu tun hat. Es geht dabei im Allgemeinen um die Einstellung einer alteingesessenen jüdischen Gemeinde in einem Land, in dem sie Freiheit und Gleichberechti­gung genießt, zu jüdischen Neuankömmlingen, die die mühsam erkämpften Privilegien wieder in Gefahr bringen könnten. Im Besonderen geht es um den Antagonismus zwischen assimilierten und nicht assimilierten Juden.

Das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen ist in diesem Jahrhundert die mehr als distanzierte Aufnahme, die die Ostjuden während der zwanzi­ger Jahre in Deutschland erfuhren. Wie David Weinberg in seinem Buch „Les Juifs de Paris de 1933 à 1939"[19] schildert, waren in Frankreich die Beziehungen zwischen den jüdischen Emigranten aus Osteuropa und der französischen Gemeinde kaum besser. Die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Gruppen rührt von einer unterschiedlichen Auffassung der jüdi­schen Identität her.

Die französischen Juden lebten seit der Emanzipation vollständig assimi­liert, und sie hatten volles Vertrauen in ihr Land, das nicht einmal durch die Dreyfus-Affaire erschüttert worden war. Frankreich hatte als erste europäische Nation die Ghettos geöffnet und den Juden die Bürgerrechte zuerkannt. Die französischen Juden vergaßen das nie und vertrauten noch fest auf die liberale Tradition, als das französische Volk sie schon größten­teils vergessen hatte. Sie fühlten sich als vollgültige Franzosen, und ihr Judentum war für sie zu einer Sache der religiOSEn Konfession geworden, d.h. in einem Land wie Frankreich, in dem Kirche und Staat getrennt sind, zu einer Privatangelegenheit. Umso unangenehmer fühlten sie sich durch die Ankunft von Emigranten berührt, die den Akzent auf die natio­nale Seite des Judentums legten und für die der Begriff „Jüdisches Volk“ eine lebendige Realität war.

In Bezug auf die deutschen Emigranten bestand dieser Antagonismus nicht. Die deutschen Juden waren in der Tat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die assimiliertesten ganz Europas. Insofern erregte ihr Schicksal nach den er­sten Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zunächst auch die Sympa­thie der französischen Gemeinde. Weinberg schreibt in diesem Zusammen­hang: „Anfänglich zeigten sie sich gastfreundlich gegenüber den Emigranten, die vor dem Nationalsozialismus flohen. Viele von ihnen dachten, daß die deut­schen Juden letztlich im Allgemeinen sowohl assimiliert als auch reich seien und berufliche Qualifikationen aufzuweisen hätten. Dies war ein will­kommener Unterschied zu all den osteuropäischen Emigranten, die ständig die Gefühle eines Franzosen verletzten. Der traurige Anblick so ehrenwer­ter Juden, die sich plötzlich im Elend befanden und aus einem Land ausge­wiesen wurden, dem gegenüber sie sich vollkommen loyal verhalten hatten, bewegte bestimmt viele französische Juden, sich für sie einzusetzen."[20]

Die Folge dieser anfänglich positiven Einstellung war die Gründung des „Comité National" und die relative Gebefreudigkeit der französischen Ju­den in den ersten Jahren nach 1933, bis etwa 1935. Gewisse Vorbehalte wurden jedoch von ihnen gleich zu Beginn gemacht. Sie wollten das Hilfswerk allein, ohne Mitwirkung der Emigranten organisieren. Ihre Haltung war von zwei Hauptsorgen bestimmt: Erstens wollten sie unter allen Um­ständen verhindern, daß sich die Emigranten in einer Epoche der Xeno­phobie in die inneren Angelegenheiten des Gastlandes mischten, und zwei­tens wollten sie sich die ausgezeichneten Beziehungen, die sie zu den fran­zösischen Behörden unterhielten, nicht verderben. So wurde das französi­sche Innenministerium von ihnen bei jedem Schritt, den sie zu Gunsten der deutschen Flüchtlinge unternahmen, zu Rate gezogen. Bald hatten die französischen Juden nur noch einen Wunsch: daß die Emigranten so schnell wie möglich weiterwanderten, damit von der französischen Bevöl­kerung nicht unerfreuliche Parallelen zwischen ihnen selbst und den doch recht elenden (moralisch erschütterten), mit den Landessitten unvertrauten Neuankömmlingen gezogen würden. Deshalb betonten die Vertreter der französischen jüdischen Gemeinde in allen ihren offiziellen Ansprachen be­reits ab 1934, daß ihr Land für die Flüchtlinge nur „eine Etappe" auf dem Weg zu einer neuen Heimat darstelle. Ihre stärkste Aktivität entfalteten sie aus diesem selben Grunde auch in der Suche nach Übersee-Visa.

Schon kurze Zeit nach der ersten Emigrantenwelle verschlechterte sich die Beziehung zwischen den deutschen und den französischen Juden zusehends. Die deutschen Flüchtlinge waren enttäuscht, daß die Franzosen trotz aller Willkommenserklärungen niemals versuchten, sie in ihre Gemeinde zu inte­grieren. Andererseits sahen viele von ihnen Frankreich tatsächlich als Zwi­schenstation an und suchten keine Kontakte zu den französischen Juden. Die, die bleiben wollten, gründeten ihre eigenen religiOSEn Vereinigungen und nahmen keine Beziehungen zum „Consistoire Central" auf. So ver­ständlich dies in der Lage der Emigranten sein mag, die versuchten, sich auf diese Weise ein Stück Heimat in der Fremde zu bewahren — die französi­schen Juden sahen darin die bewusste Absicht, sich aus Elitarismus und in Erinnerung an ihre ehemals wohlhabende und kultivierte Gemeinde von ihnen abzusondern.

Zu diesen Missverständnissen kamen mit der Wirtschaftskrise und der darauf folgenden Appeasement-Politik der Westmächte echte Interessenkon­flikte. Zum ersten Mal bestanden Differenzen zwischen den Interessen Frankreichs und denen der europäischen Juden. Die französischen Juden wählten, ohne zu zögern und in tragischer Fehleinschätzung der Lage, ge­gen ihr eigenes Interesse Frankreich. So sprach sich Lambert am 1. März 1935 in der Zeitschrift „Univers Israélite" gegen die Teilnahme der franzö­sischen Juden am jüdischen Weltkongreß in Genf aus, und zwar zum Zeit­punkt, in dem Laval und Hitler ein Abkommen über Luftwaffenbeschrän­kung unterzeichneten. „Ich kann als französischer Staatsbürger, ohne in­konsequent zu sein, nicht in Genf für den Krieg und in Paris für den Frie­den stimmen", begründete er seine Ansicht.

Im Jahr 1937 erklärte Lambert, daß trotz der Judenverfolgungen in Deutschland „die französischen Juden die letzten wären, von ihrem Land eine Politik des Ressentiments zu fordern".[21] Ebenso wie er reagierten alle übrigen hervorragenden Vertreter des französischen Judentums. Nach dem Münchener Abkommen von 1938, das nicht nur von den deutschen Flüchtlingen, sondern auch von den in Frankreich seit Jahrzehnten ansässigen Ostjuden als eine Katastrophe empfunden wurde, erklärte der Oberrabbi­ner Weil: „Sie können sich vorstellen, daß niemand größeres Mitleid mit den Schmerzen und dem Elend der 600000 deutschen Israeliten empfindet als ich. Trotzdem erscheint mir nichts wertvoller und wichtiger als die Wah­rung des Friedens auf Erden."[22]

Wie aus diesen Zitaten hervorgeht, waren die französischen Juden in einem Maße assimiliert, daß sie Solidarität nur noch national empfinden konnten. Sie fühlten sich an erster Stelle als Franzosen und dann erst als Juden. Trotz allem was in Deutschland geschah, trotz des Anklangs, den die natio­nalsozialistische Ideologie (zumindest was den Antisemitismus betrifft) in französischen rechtsradikalen Kreisen fand, schien es ihnen undenkbar, daß sich die Verfolgungen auch auf sie ausdehnen könnten. Als Frankreich bereits von den Deutschen besetzt war und die Razzien auf ausländische Juden längst begonnen hatten, fühlten sie sich immer noch in Sicherheit. Diese Verblendung ging teilweise soweit, daß die französischen Juden, selbst als sie festgenommen und in Konzentrationslagern interniert wurden, sich nicht eingestehen wollten, daß ihnen das widerfuhr, weil sie Juden waren. Jean-Jacques Bernard schildert in seinem autobiographischen Bericht über das Lager von Compiègne[23], wo sowohl ausländische als auch franzö­sische Juden interniert waren, daß die französischen im Moment, in dem man sie zur Deportation nach Auschwitz in einen Güterzug lud, die Mar­seillaise anstimmten und riefen: „Wir sterben für Frankreich!" Daß sie von der französischen Polizei verhaftet und den Deutschen ausgeliefert worden waren, schien für sie dabei keine Rolle zu spielen.

Diese Einstellung, wie auch die oben zitierten Stellungnahmen führender Vertreter der französischen jüdischen Gemeinde, weisen auf ein Identitätsproblem hin, dem man seit der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhun­dert und vor allem seit dem Zeitalter der Assimilation immer wieder begegnet. Wie aus dem tragischen Ende zahlreicher Führer des französischen Judentums deutlich wird, sagt dies jedoch nicht unbedingt etwas über die Haltung aus, die sie während der Besatzungszeit einnahmen. Viele von ih­nen blieben auf ihrem Posten, um das Schicksal der Verfolgten zu erleich­tern, als sie die Gefahr für das eigene Leben schon deutlich erkannt hatten. So wurde der Vorsitzende des „Consistoire Central", Jacques Helbronner, im Oktober 1943 verhaftet und zusammen mit seiner Frau nach Auschwitz deportiert, weil er bei Laval gegen die Festnahme André Baurs von der UGIF in Paris protestiert hatte. Sein Nachfolger, Leon Meiss, wurde im Juni 1944 festgenommen. Selbst Raymond-Raoul Lambert wurde trotz seiner viel kritisierten Beziehungen zur Vichyregierung bereits am 21. Au­gust 1943 verhaftet, weil er sich zu sehr für die Interessen der Juden in der Südzone Frankreichs eingesetzt hatte. Er wurde in Auschwitz, zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern, umgebracht.

Die politische und kulturelle Tätigkeit der Emigranten von 1933 bis 1939

Über die politische und kulturelle Tätigkeit der deutschen Emigranten ist im Verhältnis zu anderen Gebieten der Exilforschung schon viel geschrie­ben worden, hängt doch dieses Problem eng mit der Exilliteratur zusam­men. Wir gehen hier nur insoweit darauf ein, als sie zum Gesamtbild der Emigration in Frankreich gehört.

In den ersten Jahren bis etwa 1936/37 war die kulturelle Aktivität der deutschen Flüchtlinge erstaunlich rege. Neben Paris hatte sich an der Côte d'Azur, um das Fischerdorf Sanary-sur-Mer herum, eine Art zweites Kul­turzentrum der deutschen Exilierten gebildet - weniger in dem Sinne, daß dort Kultur gemacht wurde als dadurch, daß es, besonders im Sommer, zu einem Sammelpunkt der geistigen Elite geworden war. Namhafte Schrift­steller haben dort später bekannt gewordene Romane geschrieben. In der Villa Valmer, in der Lion Feuchtwanger sich eingemietet hatte, waren unter vielen anderen Franz und Alma Werfel, Aldous Huxley, René Schickele, Ludwig Marcuse und Franz Hessel zu treffen. Thomas Mann kam regel­mäßig aus der Schweiz, Heinrich Mann aus Nizza, Arnold Zweig aus Palä­stina. Im Nachbarort Le Lavandou wohnten Balder Olden und der öster­reichische Dichter Emil Alphons Reinhardt.

Am Ende der dreißiger Jahre wurden die Überlebenssorgen immer dringen­der und eine zunehmende Apathie und Verzweiflung, Kriegs- und Todes­angst lahmten die Initiativen, aber zu Beginn dieser Jahre entfaltete sich die Aktivität der Emigranten auf allen Gebieten des kulturellen Lebens, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. So wurde zunächst versucht, die glanzvolle deutsche Theatertradition der zwanziger Jahre im Exil fortzuset­zen. Schon 1933 wurden in Paris vier Theater oder Kabarette gegründet, die „Junge deutsche Tribüne", „Der Ballon", „Die Laterne" und „Les Sans-Culottes". Alle mussten nach kürzester Zeit wegen finanzieller Schwie­rigkeiten ihre Arbeit einstellen. Einzig „Die Laterne" hielt sich einige Mo­nate. Die drei anderen Theater wurden vom Pariser Tageblatt nur ein, höchstens zwei Mal erwähnt. Als etwas erfolgreicher erwiesen sich die bei­den österreichischen Ensembles „Austria" und „Wiener Künstler Klub", doch auch sie waren nicht von langer Dauer.

Im April 1934 gründete Franz Lande den „Emigranten-Oratorienchor" und das Liebhaberorchester „Philharmonia". Da es sich bei allen Mitgliedern um Laien handelte, die unentgeltlich arbeiteten, kannte Landes Unterneh­men keine existentiellen Schwierigkeiten, und aufgrund der bourgeoisen Herkunft der meisten Flüchtlinge fehlte es auch nicht an Publikum.

Erheblich schwerer hatten es emigrierte Maler oder bildende Künstler. Im Allgemeinen war ihnen der französische Absatzmarkt verschlossen, und nur wenigen von ihnen gelang es, einige Werke in Galerien auszustellen. In keinem Falle konnten sie davon ihren Lebensunterhalt bestreiten, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als entweder irgendeine artfremde Arbeit, bzw. Schwarzarbeit zu suchen oder aber die Unterstützung der Hilfskomi­tees in Anspruch zu nehmen.

Die geflohenen Intellektuellen versuchten ihrerseits, sich mit Vorträgen über Wasser zu halten, hier und dort einen Artikel in der Exilpresse unter­zubringen oder ein Buch in einem Exilverlag erscheinen zu lassen. Da die Konkurrenz außerordentlich groß war und die Honorare vergleichsweise niedrig, waren die finanziellen Erträge für den Einzelnen meist unbefriedi­gend. Außerdem bestand für diejenigen, die vor ihrer Emigration in Deutschland noch keinen Namen hatten, kaum eine Chance, je gedruckt zu werden.

Eine der wichtigsten Initiativen war die Gründung der „Freien deutschen Hochschule" im Herbst 1935 in Paris, die zu einem geistigen Treffpunkt der gesamten deutschsprachigen Emigration wurde. Der Lehrplan dieser universitätsähnlichen Institution umfasste alle Disziplinen. Sie sollte den Emigranten die Möglichkeit bieten, sich weiterzubilden. Gleichzeitig stand sie französischen und ausländischen Studenten offen, die dort den Stand der nicht von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflussten deutschen Wissenschaft kennen lernen konnten.

Ebenso wie die „Freie deutsche Hochschule" hatte sich der „Schutzverband deutscher Schriftsteller" (SDS) politische Aufklärung zum Ziel gesetzt. Er hatte Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger zu Vorsitzenden. In Vor­lesungen wurden dort Themen aus dem Bereich der Literatur und Politik behandelt wie etwa „Die Rolle des Schriftstellers in der Politik", „Litera­tur und Faschismus", „Die Verteidigung der deutschen Kultur" etc. Außer­dem wurden Lesungen aus unveröffentlichten Werken von Emigranten ver­anstaltet. Politische Aufklärungsarbeit leisteten außerdem der „Deutsche Klub", der „Arbeitskreis deutscher Anti-Hitler-Jugend in Paris" und der „Verein sozialistischer Ärzte, Sektion Paris".

Am 10. Mai 1934 wurde die „Deutsche Freiheitsbibliothek" eröffnet, mit deren Leitung Alfred Kantorowicz betraut wurde. Zu den Vorstandsmit­gliedern gehörten Romain Rolland, Lévy-Bruhl, H.G. Wells und Lion Feuchtwanger. Zu den Mitverantwortlichen zählten Prof. Hademard, Prof. Walion, Edmond Fleg, Gallimard, Frans Masereel, Bertrand Russel, Prof. Haldane, Wickham Steed, Prof. Lasky, Lady Oxford, Heinrich Mann, Joseph Roth, Ernst Toller, Georg Bernhard, Theodor Plivier, Anna Seghers und Rudolf Olden.

In der „Freiheitsbibliothek" waren Exemplare aller deut­schen Werke vereinigt, die der Bücherverbrennung der Nationalsoziali­sten zum Opfer gefallen waren. Außerdem besaß sie eine reichhaltige Lite­ratur über Faschismus und den Nationalsozialismus, bis zu Werken von Hit­ler und Chamberlain. Die Emigranten hatten einen großen Teil der Bücher aus ihren eigenen Beständen gespendet. Nach dem ersten Appell in der Exilpresse im Jahr 1934 waren mehr als 20000 Bände eingegangen. Der Bi­bliothek war das „Internationale antifaschistische Archiv" angegliedert, das Anfang 1939 über mehr als 200 000 Zeitungen und über Tausende von Flugblättern, Broschüren usw. verfügte. Die INFA veranstaltete 1934 eine Ausstellung über das Dritte Reich.

Schon aus der Aufzählung dieser verschiedenen Aktivitäten und aus den zitierten Namen ergibt sich, daß ohne eine politische treibende Kraft und dementsprechende Finanzierung diese Institutionen nicht hätten geschaf­fen werden können. Der Initiator fast all dieser Unternehmungen war Willi Münzenberg, der geniale ,,Propagandachef" der Komintern bis zu seinem Bruch mit der deutschen kommunistischen Partei im Jahre 1937. Er fand 1940 - wahrscheinlich als Opfer Stalins - in Frankreich den Tod.

Wie ein Großteil der aktivsten politischen Gegner Hitlers ist Münzenberg un­mittelbar nach dem Reichstagsbrand nach Frankreich geflohen. Hier, im Grenzland, mit der Möglichkeit aktiver illegaler Arbeit auch für Deutsch­land und großer Toleranz für politische Tätigkeit, ließen sich mit Ausnah­me der sozialdemokratischen Partei fast alle oppositionellen Parteileitun­gen nieder.

Für die kommunistische Partei fungierten in Paris, nach der Verhaftung Thälmanns und Torglers, neben Münzenberg vor allem Dahlem und Merker. Zum Parteivorstand, dessen Sitz in Moskau war (15 Mitglieder), gehörten außer ihnen auch Ulbricht und Pieck.

Als Vertreter des erst in Prag, dann vorübergehend in Paris und dann in London etablierten Parteivorstandes der „SOPADE" (Sozialdemokratische Partei) galt in Frankreich in erster Linie Rudolf Breitscheid, der zu Leon Blum und dessen Freunden, aber auch zu anderen Persönlichkeiten des französischen politischen Lebens, gute Beziehungen unterhielt und einen gewissen Einfluss geltend machen konnte. Er und Kurt Hirschfeld pflegten Kontakte zu den jeweiligen französischen Regierungen und hatten Einfluss auf den für die Emigranten so besonders hilfreichen Abgeordneten Salomon Grumbach. Auch mit dem Leiter der Pressestelle des Quai d'Orsay, Pierre Comert, standen sie in enger Verbindung sowie mit dem Dramatiker Jean Giraudoux, der zu Kriegsbeginn eine Art Informationsminister wurde.

Außer der Kommunistischen Partei hatten 1935/36 die „SAP" (Sozialisti­sche Arbeiterpartei), die „KPO" (Kommunistische Partei-Opposition), der „ISK" (Internationaler Sozialistischer Kampfbund) und die „LO" (Links­opposition) den Sitz ihrer Auslandsleitung in der französischen Haupt­stadt[24].

Der Prozentsatz der politischen Exilierten in Bezug auf die Gesamtemigra­tion war recht hoch. Im gleichen Jahr 1935/36 befanden sich schätzungs­weise 3 000 Sozialdemokraten und zwischen 3 000 und 5 500 Kommuni­sten in Paris. Hinzu kommen etwa 500 Pazifisten und Demokraten" und rund 250 Katholiken. Wenn diese Zahlen exakt sind (auch hier sind die Statistiken unvollständig), gehörten Mitte der dreißiger Jahre etwa 20% der deutschen Flüchtlinge in Frankreich zur „politischen Emigration". Die­se Proportion verringerte sich später erheblich.

Die Vielzahl der Organisationen in Paris Mitte der dreißiger Jahre ist kaum zu überblicken. „Deutsche und internationale Komitees, Parallelgründun­gen mit kaum unterscheidbarer Aufgabenstellung, personelle Überschnei­dungen bis hin zu fast vollständiger Personalunion machen dieses Bild nicht durchsichtiger."[25] Alle jedoch hatten ein gemeinsames Ziel: die Bekämp­fung des Faschismus. Das langsam gereifte, jedoch nie zustande gekommene Projekt der Bildung einer Volks- bzw. Einheitsfront wurde allgemein (zumindest theoretisch) als das beste Mittel dazu angesehen, zumal in Frankreich, wo die Volksfront 1936, wenn auch nur kurz, zu einer Realität werden sollte. Als Vorstufe dazu wurden zunächst zahlreiche Komitees ge­gründet, vornehmlich als Solidaritätskundgebungen für verfolgte Anti­faschisten. Ursula Langkau-Alex nennt das Thälmann-Komitee, das Dimitroff-Komitee, das Ossietzky-Komitee etc.

Die eigentliche Diskussion jedoch, die zwischen den beiden großen Partei­en — Kommunisten und Sozialdemokraten — hätte stattfinden müssen, kam dabei nicht recht zustande. Während die Kommunisten noch lange an der Theorie des Sozialfaschismus festgehalten hatten, die die Sozialdemo­kraten als Verräter abstempelte, bestand innerhalb der SPD Uneinigkeit darüber, ob man sich nun mit den Kommunisten verbünden solle. Die Pari­ser Vertretung der SOPADE, die das französische Beispiel vor Augen hatte, war dafür, die Parteileitung hingegen lehnte das Projekt einer Einheitsfront entschieden ab.

Erst auf dem „Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur", der am 21. Juni 1935 in Paris abgehalten wurde und bei dem Anti­faschisten aller politischen Richtungen zu Wort kamen, wurde die Diskus­sion um einen Schritt weitergebracht. Thema des Kongresses waren Faschis­mus und Nationalsozialismus. Zu den deutschen Rednern zählten unter anderen Bert Brecht, E. E. Kisch, Max Brod, Ernst Toller, Alfred Kerr, Anna Seghers, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Gustav Regler, Bodo Uhse, Alfred Kanatorowicz, Klaus Mann, Erich Weinert, Alfred Döblin, Kurt Hiller, Paul Westheim, Ferdinand Hardekopf, Rudolf Leonhard, Her­mann Resten, Fritz Schiff, Ernst Leonhard und Else Lasker-Schüler[26].

Im Rahmen des Schriftstellerkongresses fand am 23. Juni im Pariser Vorort Montreuil die Siebente Solidaritätstagung der von Münzenberg gegründeten und geleiteten „Internationalen Arbeiterhilfe" (IAH) statt, bei der mehr als 30 Organisationen vertreten waren und an der mehr als 60 000 Personen teilnahmen. Die ausländischen Redner betonten ihre Solidarität mit den Hitlergegnern und die Notwendigkeit für die deutschen Antifaschisten, sich endlich zu einigen. Unter den Emigranten fand der sogenannte „Montreuil-Aufruf“ eine begeisterte Aufnahme, und von Heinrich Mann wurde er als „eine große Neuheit" bezeichnet.

Wie aus verschiedenen Artikeln der Exilpresse ersichtlich wird, versuchten daraufhin mehrere Initiativen, die deutsche Emigration in einer antifaschi­stischen Front zu einigen. Die zweifellos wichtigste unter ihnen ist die Gründung des „Lutetia-Kreises" unter Willi Münzenberg. Es handelte sich dabei um einen „Versuch, bürgerliche Intellektuelle und Sozialdemokraten, Katholiken und Kommunisten in einer gemeinsamen politischen Front ge­gen den Nationalsozialismus zu sammeln"[27], das erste Treffen, bei dem die Gründung des sogenannten Lutetia-Komitees beschlossen wurde. Teilneh­mer waren: Münzenberg als Vertreter der KPD, Georg Bernhard, Leopold Schwarzschild als Vertreter der Bürgerlichen. Je ein Sitz sollte einem Ver­treter des Sozialdemokratischen Parteivorstandes, der Freien Gewerkschaf­ten und der Katholiken vorbehalten werden. Der Vorsitzende des Komi­tees war Heinrich Mann. Die beiden Journalisten Leopold Schwarzschild und Georg Bernhard boten sich an, einen Programmentwurf, bzw. eine „Verfassung für das neue Deutschland" auszuarbeiten.

Die Arbeit des Lutetia-Komitees erwies sich als wenig fruchtbar. „Einen Ansatz, emigrierte Arbeiter - nicht Funktionäre einer Arbeiterpartei oder (ehemaligen) Gewerkschaft - für die Volksfront und ihre Ziele zu mobili­sieren oder gar organisatorisch zusammenzuschließen, sucht man 1935 - und später - vergeblich."[28]

Aus welchen Gründen die deutsche Volksfront im Exil dann endgültig nicht zustande gekommen ist, gehört in die allgemeine politische Ideen­geschichte. Um ihrer Geschichte gerecht zu werden, müsste man sie im Rahmen der Haltung der Linksbewegungen analysieren. Wir verweisen in diesem Zusammenhang den interessierten Leser auf Ursula Langkau-Alex ausführliche Studie zu diesem Thema.

Nach dem Bruch Münzenbergs mit der KPD und deren Annäherung an die später zum Hitler-Stalin-Pakt führende Politik gelang es Münzenberg, in en­gerem Kontakt mit bürgerlichen Politikern zu arbeiten, die sich vom Volks­frontausschuss distanziert hatten. Hier handelte es sich vor allem um die sogenannte deutsche Freiheitspartei, die sich um den letzten preußischen Finanzminister vor Papens Staatsstreich, Otto Klepper, gebildet hatte[29]. Diese auf alter demokratischer oder sogar Zentrumstradition aufgebauten Freundeskreise und Gruppen hatten durch die Veröffentlichung und die Verbreitung illegalen Materials erheblichen Einfluss in Deutschland.

Alle diese politischen Parteien und Gruppen brachten ihre Meinungen und Ansichten in der Exilpresse und in den Veröffentlichungen der Emigranten­verlage zum Ausdruck.

Schon in den ersten Jahren der Emigration wurden in der Tat zahlreiche Exilverlage gegründet, die die Werke der in Deutschland verbotenen Schrift­steller herausbrachten. In Frankreich handelte es sich dabei im Gegensatz zu anderen Ländern (wir denken zum Beispiel an den Querido-Verlag in Holland) meist um kurzlebige Kleinverlage. Trotzdem erschienen dort eini­ge wichtige Werke von Schriftstellern wie Bertold Brecht, Anna Seghers und Heinrich Mann.

Willi Münzenberg gründete 1933 die „Editions du Carrefour", die sich fünf Jahre lang halten konnte. Wie alles, wofür Münzenberg bis 1937 verantwort­lich war, hatte der Verlag eine streng kommunistische Linie. Er wurde vor allen Dingen durch das „Braunbuch I" (1933), „Braunbuch II - Dimitroff contra Göring" (1934) und das „Weißbuch über die Erschießungen vom 30. Juni" (1934) bekannt. Dem „Pariser Tageblatt" zufolge hatte das „Braunbuch I" bis Juni 1934 eine Anzahl von 500000 Exemplaren in 29 Auflagen und fünf illegalen Kleinausgaben erreicht. Diese Zahlen sind jedoch mit Skepsis zu betrachten. Laut Babette Gross wurden höchstens 25 000 Exemplare gedruckt.

Ebenfalls kommunistisch orientiert war die „Editions Prométhée, Stras­bourg/Paris", in der hauptsächlich kritische Schriften über den National­sozialismus verlegt wurden. Die vom tschechoslowakischen Staatsbürger Paul Roubiczek und dem deutschen Schriftsteller Peter de Mendelssohn gegründete „Edition du Mercure Européen, Paris" zählte während ihres kurzen Bestehens Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Walter Mehring, Rudolf Olden und Ernst Glaeser zu ihren Autoren. Hingegen kamen die „Editions Phénix", „Editions Météore, Paris", „Die Zone, Paris" und „Brant, Straßburg" über die Veröffentlichung einiger Bände nicht hinaus.

Den wichtigsten Platz in der kulturellen Tätigkeit der Emigranten nahm zweifellos die Exilpresse ein. Hans-Albert Walter definiert ihren selbst gestellten Aufgabenbereich folgendermaßen: „Sie sollte die Weltöffentlich­keit mit den wirklichen Verhältnissen in Deutschland vertraut machen, über den Terror der Nationalsozialisten berichten und vor der Kriegsgefahr warnen, die von Hitlerdeutschland ausging."[30] Dieses Aufklärungswerk soll­te außerdem durch illegale Verbreitung auf Deutschland selbst ausgedehnt werden. Keines dieser beiden Ziele wurde erreicht. Die Wirkung der Exil­presse im Ausland war minimal, und in Deutschland war ihre Verbreitung trotz aufopferungsvollster Anstrengungen der Beteiligten schwach und das Echo geringer als erhofft. Die eigentliche Bedeutung der Exilpresse liegt in­sofern innerhalb der Emigration. In gewissem Maße ist es ihr zu verdanken, wenn eine gewisse Einheitlichkeit des deutschen intellektuellen Lebens über die Grenzen hinweg erhalten blieb.

Zwischen 1933 und 1945 erschienen mehr als 400 Zeitschriften und Zei­tungen. Alle litten unter Geldschwierigkeiten, und die meisten von ihnen hatten nur eine kurze Lebensdauer. Diejenigen, die sich längere Zeit halten konnten, erhielten gewöhnlich Zuschüsse aus Parteimitteln oder aus dem Budget sonstiger politischer Gruppen. Die vier wichtigsten in Paris erscheinenden Blätter waren das pariser Tageblatt" und anschließend die „Pariser Tageszeitung", die „Neue Weltbühne" (ab 1938 Paris, vorher Prag), das „Neue Tagebuch" sowie Münzenbergs „Gegenangriff" und später — „Die Zukunft".

Das „Pariser Tageblatt" erschien erstmals am 12. Dezember 1933. Sein Herausgeber war der russische Emigrant Wladimir Poliakov, Chefredakteur der ehemalige Reichstagsabgeordnete Georg Bernhard, der bis 1930 Chef­redakteur der liberalen „Vossischen Zeitung" in Berlin gewesen war. Das Pariser Tageblatt umfasste vier Seiten und erschien täglich bis zum 14. Mai 1936 mit einer Auflage von ca. 14000 Exemplaren. Aufgrund einer von Bernhard gesponnenen Intrige gegen Poliakov, die als die „Affäre des Pari­ser Tageblatts" bekannt wurde[31], musste das Blatt sein Erscheinen einstel­len. Die „Pariser Tageszeitung" trat für einige Zeit die Nachfolge an. Die politische Linie der Zeitung wurde von Bernhard selbst als „demokratisch und linksliberal" definiert. Die Hauptthemen ihrer Artikel betrafen die Außenpolitik im Allgemeinen, die französische Politik und Emigrations­probleme. Die politische Tätigkeit der Emigranten hingegen blieb fast voll­ständig unerwähnt.

Die „Neue Weltbühne" war eine Fortsetzung der linksorientierten pazifisti­schen „Weltbühne" von Jacobsohn, Tucholsky und Ossietzky. Diese partei­unabhängige Zeitung erschien ab 1933 einige Jahre lang in Prag und, nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen, gleichzeitig in Paris, Zürich und London. Als Höchstauflage soll sie in der gesamten Emi­gration 9 000 Exemplare erreicht haben, jedoch sicher nicht in der letzten Zeit ihres Bestehens während ihres Erscheinens in Frankreich. Die „Neue Weltbühne" wurde wie alle Blätter, deren linke Tendenz den französischen Behörden bekannt war, bei Kriegsausbruch in Frankreich verboten. Ihre letzte Nummer trägt das Datum des 31. August 1939.

Leiter der „Neuen Weltbühne" war bis 1934 der Journalist Willy Schlamm. Nach einer Auseinandersetzung zwischen ihm und der Herausgeberin der Zeitschrift wurde Dr. Hermann Budzislawski zu seinem Nachfolger be­stimmt. Die politische Richtung der „Neuen Weltbühne" unter Schlamm war sozialistisch-pazifistisch, mit Sympathien für Trotzki, der auch zu ih­ren bedeutendsten Autoren zählte. Nach Schlamms Rücktritt stellte dieser, wie auch eine Reihe anderer Schriftsteller und Journalisten, seine Mitarbeit ein. Unter Budzislawski erhielt das Blatt eine eindeutig parteikommunisti­sche Prägung.

Das „Neue Tagebuch" ist das Nachfolgeorgan des Berliner „Tagebuchs", das seit 1927 vom Wirtschaftsjournalisten Leopold Schwarzschild geleitet wurde. Es war „ein linksliberales Organ, parteipolitisch nicht gebunden, doch entschieden republikanisch'".[32] Die nur aus einigen wenigen hoch ­qualifizierten Journalisten bestehende Redaktion wurde 1933 nach Paris verlegt. Das Blatt erschien mit einer Maximalauflage von 15 000 bis 16 000 Exemplaren bis zum 11. Mai 1940. Es war auf Wirtschaftsanalysen speziali­siert, die besonders das Deutsche Reich zum Objekt hatten. Das „Neue Tagebuch" warnte ebenso unermüdlich wie erfolglos vor der Appeasement-Politik der Westmächte.

Der „Gegenangriff“ erschien von April bis September 1933 alle 14 Tage in Prag und ab 1. Oktober 1933 wöchentlich in Paris in den „Editions du Carrefour". Chefredakteure waren Willi Münzenberg und Karl Franz (alias Hans Schulz). Die Zeitschrift wurde von der KPD finanziert und war in ih­rer Pariser Ausgabe auf die Probleme der Emigration in den westeuropäi­schen Ländern spezialisiert.

Ebenfalls unter der Leitung von Münzenberg erschien bis Kriegsausbruch die „Zukunft". Schließlich sind für die deutsche Exilpresse in Frankreich noch „Aufruf“, „Europäische Hefte", der „Neue Vorwärts", „Die deut­sche Revolution" und, bis zur Saarabstimmung, die von Max Braun heraus­gegebene „Deutsche Freiheit" zu nennen, die zwar nicht in Frankreich ver­öffentlicht wurden, in Paris wie in Prag jedoch an den Zeitungsständen ge­kauft werden konnten. Die SAP veröffentlichte die „Neue Front" und der ISK die „Sozialistische Warte". Als typisch für die Verquickung von kultureller und politischer Tätigkeit der Emigranten kann das Schicksal des Journalisten Berthold Jacob gelten, dessen Entführung unter den vielen Geschehnissen, die sich damals in Frankreich ereigneten, einen besonderen Platz einnimmt. Nicht daß es nicht schon früher und später vorgekommen wäre, daß ein politisch gefähr­licher Gegner in eine Falle gelockt worden und in der Versenkung ver­schwunden wäre, aber hier ist der Entführer gezwungen worden, sein Opfer freizugeben.

Der deutsche Journalist Jacob Salomon, genannt Berthold Jacob, ein enger Mitarbeiter der „Weltbühne" und Carl von Ossietzkis, Pazifist, war schon vor der Hitlerzeit verfolgt und durch einen Prozess mit Gefängnis bedroht worden. Er ließ sich daraufhin in Straßburg und später in Paris nieder. Berthold Jacob war Fachmann für Militärfragen, er machte die Welt als einer der ersten auf Hitlers Angriffspläne aufmerksam und veröffentlichte Einzelheiten über die militärische Aufrüstung. Er wurde vom Gestapo­agenten Wesemann (der im Auftrag seines Chefs Heydrich und des Auswär­tigen Amts handelte) nach Basel in eine Falle gelockt und von dort nach Deutschland ins Gestapohauptquartier entführt. Dort konnte er seinen Kidnappern beweisen, daß seine Angaben über Hitlers Pläne auf deutsche Veröffentlichungen zurückgingen und nicht auf Spionagetätigkeiten. Hitler musste sodann dem Rücklieferungsbegehren entsprechen, um das von der Schweiz andernfalls angedrohte Schiedsverfahren zu verhindern, das eine breite Diskussion seiner geheimen Kriegsvorbereitungen ausgelöst hätte. Aus der Schweiz wurde Berthold Jacob dann nach Frankreich abgescho­ben. Die Gestapo rächte sich einige Jahre später. Berthold Jacob wurde auf der Flucht aus dem besetzten Frankreich verhaftet, nach Berlin gebracht, und kam dort in einem Gefängnis um.

Das Schicksal der Saarflüchtlinge

Das Schicksal der Saarflüchtlinge unterscheidet sich in mancher Hinsicht von dem der deutschen und österreichischen Emigranten. Zumindest wäh­rend der Vorkriegszeit und der ersten Kriegsjahre nahmen sie innerhalb der Emigration eine privilegierte Stellung ein. Anschließend mussten sie, soweit es sich um Juden handelte (was jedoch nur bei einer Minderheit der Fall war), wie alle anderen mit Deportation rechnen. Den übrigen drohte das ebenfalls wenig beneidenswerte Schicksal der erklärten Hitlergegner.

Die Saarabstimmung, bei der darüber entschieden wurde, ob das Saargebiet ins Deutsche Reich eingegliedert oder weiter unter der Verwaltung des Völkerbundes bleiben sollte, fand am 13. Januar 1935 statt. Seine Bewoh­ner stimmten mit überwältigender Mehrheit für Hitlerdeutschland. Obwohl das Ergebnis der Abstimmung schon monatelang vorher feststand (die Na­tionalsozialisten hatten eine so starke Position im Saargebiet, daß sie sogar ungestraft und vor aller Augen bei der Stimmenauswertung fälschen konn­ten), hatten die Gegner der Angliederung, die vornehmlich den Linkspar­teien angehörten, eine unermüdliche Warnkampagne geführt. Sie wussten, was sie erwartete, sobald die Nationalsozialisten die Regierung übernehmen würden, und schon in den ersten Tagen nach der Abstimmung überschrit­ten hunderte von ihnen auf legale oder illegale Weise die französische Grenze.

Um legal auszuwandern, brauchten die Flüchtlinge außer einem gültigen Pass ein Visum des französischen Konsulats in Saarbrücken. Am 19. Janu­ar 1935 lagen bereits 5000 Anträge für französische Einreisevisen vor. Paris hatte dem Konsulat eine strenge Siebung vorgeschrieben. Nur solchen An­tragstellern sollte stattgegeben werden, die eine politische Betätigung nach­weisen konnten. Offiziell wurden insgesamt 4000 Flüchtlinge aufgenom­men und vorübergehend in Auffanglagern interniert. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge liegt jedoch bei mindestens 6000, worunter sich etwa 1000 reichsdeutsche Emigranten befanden, die sich zwischen 1933 und 1935 im Saargebiet niedergelassen hatten. Das würde bedeuten, daß etwa 2000 Personen illegal nach Frankreich eingewandert sind oder sich bereits vor der Abstimmung dorthin abgesetzt haben.

Die Aufnahme der Saarflüchtlinge war von den französischen Behörden nur sehr unvollkommen organisiert worden. Der Funktionär der SPD und Pressechef des früheren Bundespräsidenten Heinemann, Günther Mark­scheffel erzählt, wie er mit seiner aus dem Ruhrgebiet emigrierten, eben­falls politisch aktiven Frau in einem Lager in der Nähe von Toulouse inter­niert wurde. Die Prüfung der Identität der dort Aufgenommenen zog sich über Wochen hin. Einige politische Flüchtlinge wurden aus unerfindlichen Gründen wieder zurückgeschickt. Der Lagerkommandant, mit dem Mark­scheffel auf gutem Fuße stand, gab ihm zu verstehen, es sei besser, wenn er sich freiwillig zur Landarbeit melden würde, da er sonst unter Umständen ausgewiesen werden könnte. Willkür herrschte auch bei der Siebung, und die Stimmung der Lagerinsassen war dementsprechend auf dem Nullpunkt. Dies ging so weit, daß sich von 60 Internierten 26 für den vermeintlich an­gebotenen Posten meldeten, als das Gerücht laut wurde, Frankreich brau­che einen neuen Scharfrichter und würde diesem die französische Staatsangehörigkeit, eine Wohnung in Paris und ein ordentliches Gehalt geben.

Der legale Status dieser Emigranten war auch nach ihrer Befreiung aus den Lagern nichts weniger als klar. Bis Ende 1935 wurden vom Völkerbund für Saareinwohner deutscher Herkunft sogenannte Saarpässe von zweijähriger Gültigkeit ausgestellt. Nach der Eingliederung des Saargebietes ins Deut­sche Reich wurden diese Pässe von verschiedenen Ländern, die ausnahms­los Mitglieder des Völkerbundes waren, nicht mehr anerkannt. Nach ein­gehender Beratung zwischen der französischen Regierung und Vertretern des Völkerbundes wurde durch einen Erlass vom 7. September 1935 die Gültigkeit des Nansenpasses auf die Saarflüchtlinge ausgedehnt. Die Aus­stellung eines solchen Passes war jedoch keineswegs automatisch: „Le Journal" behauptet, daß bemittelte Flüchtlinge ihn leichter erhielten als andere. Dies ist nicht nachweisbar, scheint aber nach den sonstigen Erfah­rungen, die fast alle Emigranten bei ihrer Beantragung einer „carte d'identité" machten (viele Beamte in den Präfekturen erwiesen sich als ausge­sprochen zugänglich für Bestechungsgelder), mehr als wahrscheinlich.

Die französischen Behörden taten wenig, um die Integration der Saarflücht­linge zu erleichtern, und zuweilen versuchten sie sogar, diese wieder loszu­werden. So hatte Markscheffels Frau die Gelegenheit, in ihrer Familie in Straßburg Unterkunft zu finden. Auf dem Entlassungsschein, der ihr im Lager ausgestellt wurde, stand, sie habe damit auf das politische Asylrecht verzichtet. Sie unterschrieb aus Unkenntnis der französischen Sprache und lief zweimal Gefahr, ausgeliefert zu werden. Nur persönliche Beziehungen und Interventionen retteten sie.


ZWEITER TEIL

Die unmittelbare Vorkriegszeit

Die politische Lage in Europa bis Mitte 1939 ist durch die Appeasement-Politik der Westmächte charakterisiert. Nicht nur die Rheinlandbesetzung, sondern auch der Anschluss Österreichs (11.3.1938) waren von den europäi­schen Nationen widerstandslos hingenommen worden. Die darauf folgende Ankunft tausender österreichischer Flüchtlinge hatte in der französischen Öffentlichkeit keinerlei antideutsche Reaktionen ausgelöst. Am 29. Sep­tember 1938 fand die Konferenz von München statt, an der Hitler, Musso­lini, Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier teilnahmen. Um „den Frieden zu retten" willigten Hitlers Verhandlungspartner in die Abtretung der zur CSR gehörenden überwiegend deutsch besiedelten Randgebiete Böhmen und Mähren an Deutschland ein. Unter den Emigran­ten herrschte bei dieser Nachricht Trauer und Entsetzen, aber Daladier wurde bei seiner Rückkehr von der französischen Bevölkerung mit einem Freudentaumel begrüßt. Die französischen Juden zeigten sich wie immer sehr diskret. Lambert schrieb als einzigen Kommentar zu diesem Ereignis im „Univers Israélite" „Der französische Israelit hat zuviel Takt und Zu­rückhaltung, um zu fordern, daß die Außenpolitik seines Landes sich nach den Verfolgungen richtet, die seine Religionsgenossen außerhalb der Grenzen erleiden müssen. (. . .) Unsere Liebe zum Frieden bringt die Ressenti­ments in uns zum Schweigen."

Am 10. November 1938 fand das erste große, organisierte Pogrom gegen die Juden im Deutschen Reich statt, die Kristallnacht. Kurz darauf, am 6. Dezember, kam der deutsche Außenminister Ribbentrop zu einem offi­ziellen Besuch nach Paris. Die Emigranten waren empört, aber machtlos. Nur in wenigen Artikeln der Exilpresse wurde die französische Politik kritisiert. Der Besuch Ribbentrops bedeutete insofern eine Wende, als zum ersten Mal für die Dauer seines Aufenthaltes deutsche Flüchtlinge verhaftet und interniert wurden. Dies wurde durch ein am 2. November 1938 erlassenes Gesetz ermöglicht, demzufolge „unerwünsch­te Ausländer" in „besonderen Zentren zusammengefasst" werden konnten. Andere wurden für kurze Zeit aus Paris verbannt. Wie Markscheffel ver­merkt, wurde ihm plötzlich klar, wie gut die französische Verwaltung bei allem laissez-aller über jeden einzelnen Deutschen Bescheid wusste, der po­litisch aktiv war.

Dann überstürzten sich die Ereignisse. Im März 1939 annektierte Hitler die Tschechoslowakei, und am 15./16. März wurde das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren errichtet. Am 1. September griffen die Deutschen oh­ne vorherige Kriegserklärung Polen an, am 3. September erklärten Frank­reich und England Deutschland den Krieg.

Der Kriegsausbruch

Die Reaktion der Emigranten

Schon seit Monaten hatten die Emigranten die Katastrophe kommen sehen und sich, soweit sie konnten, darauf vorbereitet. Wer ein Überseevisum be­kommen konnte, verließ das Land. Eine Reihe von wehrdienstfähigen Män­nern beschloss, auf französischer Seite gegen Hitler zu kämpfen. In der Tat konnten in Frankreich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 31.März 1928 staatenlose junge Männer, die seit mehreren Jahren im Lande ansässig waren, regulären Militärdienst leisten. Im Jahre 1937 fand zum ersten Mal ein Zensus derjenigen statt, die von diesem Gesetz betroffen waren. Junge Männer, die sich zum Militärdienst meldeten, sollten für zwei Jahre in einer französischen Einheit dienen. Nur auf speziellen Wunsch wurden sie in der Fremdenlegion inkorporiert.

Durch einen Erlass vom 12. April 1939 (Art. 4) wurde der Wehrdienst für alle Ausländer, die in Frankreich im Asyl lebten, zur Pflicht. Staatenlose Männer zwischen 20 und 40 Jahren wurden unter die Autorität der Militär­behörde gestellt und mussten sich verfügbar halten. Volontäre zwischen 18 und 40 Jahren wurden in Listen für gewöhnliche Einheiten eingeschrieben.

Zwischen April und September 1939 kamen Tausende von Flüchtlingen in die Büros der neu gegründeten Organisation „Les amis de la République Française", um sich als Freiwillige zu melden. Drei Tage vor Kriegsaus­bruch öffnete die Vereinigung jüdischer Kriegsveteranen ebenfalls ein Re­krutierungsbüro. In einer Woche schrieben sich 6000 Emigranten in ihren Listen ein. Am 8. Oktober 1939 waren 9000 ausländische Juden als Frei­willige in der französischen Armee inkorporiert, 8000 davon in der polni­schen und 1000 in der tschechischen Legion — alle waren entweder aus Deutschland oder aus der Tschechoslowakei emigriert. Insgesamt dienten laut Tartakower und laut Grossmann im Januar etwa 60 000 ausländi­sche Juden in der französischen Armee. Die Hälfte von ihnen waren Flücht­linge.

Frankreich hatte schon relativ früh die Dienste von Emigranten für seine Streitkräfte in Anspruch genommen. Ab 1936 veranstaltete der französi­sche Rundfunk von Straßburg aus unter Mithilfe von Flüchtlingen Propa­gandasendungen in deutscher Sprache. Während der Kriegszeit wurde die Mitarbeit der Emigranten auf die gesamte Propagandakampagne ausge­dehnt. Fast alle Flugblätter, die die Alliierten abwarfen, waren von Emi­granten verfasst oder übersetzt worden.

Die Reaktion der Franzosen

Die erste Internierungswelle. Legionäre und Prestatäre

Am 4. September 1939 erschienen überall in Frankreich Anschläge, wo­nach „feindliche Ausländer zwischen 17 und 48 Jahren" sich mit einer Wolldecke, Waschsachen und einer Essration für zwei Tage an einem für jedes Département besonders angegebenen Ort einzufinden hätten — mei­stens in einem Stadion, einer Kaserne oder einer ehemaligen Festung. Zwei Wochen später wurde diese Anweisung auf Männer bis 55 Jahre ausgedehnt. Frauen blieben von dieser Maßnahme vorerst verschont.

Nur sehr wenige deutsche und österreichische Emigranten konnten sich diesem Befehl entziehen. Die meisten glaubten, es handle sich um eine rein administrative Maßnahme, und in spätestens zwei Tagen würden sie wieder zu Hause sein. Sie sollten ihren Irrtum erst einsehen, als sie von den Versamm­lungszentren in Internierungslager geschafft wurden, wo keinerlei Aussicht auf baldige Entlassung bestand. Die Operation war gut vorbereitet gewesen. Nach einer Woche waren bereits 15 000 Ausländer in 60 verschiedenen La­gern interniert, was bedeutet, daß die von dieser Maßnahme betroffene Altersgruppe fast vollständig erfasst war.

Die „feindlichen Ausländer" wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Während die Mehrzahl außer ihrer Staatsangehörigkeit nichts aufzuweisen hatte was die französischen Behörden hätte interessieren können, gab es noch eine Liste „gefährlicher Personen", die in dem berüchtigten Lager „Le Vernet" untergebracht wurden. Die Kriterien für die Aufstellung dieser Listen bil­det eines der Geheimnisse der französischen Bürokratie. Man fand dort be­kannte Linksschriftsteller, über deren antifaschistische Einstellung kein Zweifel bestehen konnte, z.B. Arthur Koestler, sowie Personen, deren Na­tionalität bzw. Aufenthaltsstatus unklar war. Dazu gehörten zum Beispiel diejenigen, die gegen die Ausweisung eines Präfekten Berufung eingelegt hatten und auf Antwort warteten.

Einer der schockierendsten Aspekte dieses Internierungsbefehls war, daß er ohne Unterscheidung der politischen oder ideologischen Zugehörigkeit des Betroffenen durchgeführt wurde. So fanden sich in den Lagern Mitglieder lokaler „Brauner Häuser" neben echten Hitlergegnern.

Mit Sicherheit war die flüchtlingsfeindliche Einstellung der französischen Behörden ausschlaggebend für diese Maßnahme. Als ein knappes Jahr spä­ter, am 10. Juni 1940, Italien in den Krieg eintrat, wurde nur eine kleine Anzahl der bekanntesten und aktivsten Faschisten interniert, während die überwältigende Mehrheit der Million in Frankreich ansässigen Italiener un­gehindert ihrer Beschäftigung nachgehen konnte.

Die französische Regierung begründete die Internierung der deutschen und österreichischen Emigranten damit, daß diese in Kriegszeiten eine Gefähr­dung für die nationale Sicherheit darstellten. In der Tat war in Frankreich Ende 1939 eine Art Psychose der „fünften Kolonne" ausgebrochen. Die Presse warnte vor Hitlerspionen unter den Emigranten, und immer häufiger konnte man lesen, daß die Flüchtlinge am Krieg Schuld seien. Innenmini­ster Sarraut erklärte vor dem Parlament, man könne nicht genug auf der Hut sein - der Feind sei überall.

Die Behörden wussten trotz dieser Versicherungen, daß sich unter den deutschsprachigen Emigranten, die fast alle Opfer des Nationalsozialismus waren, nur sehr wenige Nazispitzel befanden. Als weiteres Argument für diese auch in Frankreich allgemein als drakonisch empfundene Maßnahme führten sie deshalb an, daß durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffs­pakt vom 23. August 1939 alle treuen Parteikommunisten zu virtuellen Verbündeten Hitlerdeutschlands geworden waren.

Die französische Verwaltung war zu dieser Zeit schon stark faschistisch durchsetzt. Trotzdem hatte man aus Furcht vor der Reaktion der liberalen öffentlichen Meinung im In- und Ausland die Entscheidung der Internierung „feindlicher Ausländer" so lange wie möglich hinausgezögert. Maxi­milian Koessler zufolge[33] wurde der endgültige Beschluss dazu erst am 26. August 1939 gefasst. Die juristische Basis für diese Maßnahme war jedoch bereits seit langem vorbereitet. Wie schon erwähnt, machte es das anlässlich des Ribbentrop-Besuchs erlassene Gesetz vom 2. November 1938 möglich, „unerwünschte Ausländer" in „besonderen Zentren zusammenzufassen".

Die Internierung der deutschen und österreichischen Emigranten erwies sich als ein politischer Fehler. Die internationale Presse sprach vom Prestige-Verlust" der französischen Regierung. Die Vereinigten Staaten übten einen diskreten, aber starken Druck auf Paris aus, um einer Lage ein Ende zu set­zen, die sich nur negativ auf die alliiertenfreundliche Politik Washingtons auswirken konnte. Auch innerhalb Frankreichs erregte diese Maßnahme heftige Kritik, vor allen Dingen bei den Linksparteien. Der sozialistische Abgeordnete Marius Moutet schrieb als erster in „La Lumiere" am 17. No­vember 1939, daß die meisten Internierten in Wirklichkeit „ergebene An­hänger und Freunde Frankreichs" seien.

Am 8. Dezember fand auf Anfrage der sozialistischen Fraktion, als deren Sprecher Salomon Grumbach auftrat, eine Parlamentsdebatte über dieses Thema statt. Innenminister Sarraut sah sich gezwungen zuzugeben, daß Fehler begangen worden waren und „Änderungen im Gange" seien.

Für die Häftlinge bedeutete das, daß ein „comité de criblage" (eine Sie­bungskommission) in die Lager geschickt wurde, die die „vertrauenswürdi­gen" von den „verdächtigen" Flüchtlingen absondern sollte. Personen, von denen angenommen wurde, daß sie mit Hitler oder Stalin sympathisierten, wurden prinzipiell nicht freigelassen. Als „objektive Kriterien" für die Ver­trauenswürdigkeit eines Flüchtlings galten zum Beispiel französische Fami­lienmitglieder, Empfehlungsschreiben bekannter Persönlichkeiten, die Ab­solvierung des französischen Militärdienstes, aber auch hinreichende Mittel zum Lebensunterhalt und ein fester Wohnsitz. Österreicher und Saarländer erfuhren eine mildere Behandlung als deutsche Emigranten. Einige inter­national bekannte Antifaschisten wurden entweder sofort freigelassen oder waren gar nicht erst interniert worden. Es lag in der Tat im Innenministe­rium eine Liste vor, die jedoch nur einige Dutzend Personen umfasste.

An erster Stelle wurden die aus den Lagern entlassen, die nachweisen konn­ten, daß sie auf den deutschen Ausbürgerungslisten standen. Invalide durf­ten ebenfalls bald zu ihren Familien zurückkehren, und Emigranten mit Überseevisen wurden entweder sofort befreit oder in ein Transitlager (camp d'émigration) überwiesen, in dem sie bis zu ihrer Abreise blieben.

Diejenigen jedoch — und das waren die meisten —, die keine Garantien zu bieten und weder Geld noch Aufenthaltserlaubnis hatten, blieben in den Lagern. Die einzige Möglichkeit herauszukommen, die ihnen offen stand, war, sich „freiwillig" für die Fremdenlegion zu melden. Alle, die sich in den Monaten vor Kriegsausbruch als Freiwillige in den Listen der Rekrutie­rungsbüros eingetragen hatten, um in der französischen Armee zu kämpfen, waren im September 1939 von den französischen Behörden mit wenig überzeugenden Argumenten zurückgewiesen worden.

Ein ehemaliger Volontär berichtet in diesem Zusammenhang: „Wie viele andere hatte ich mich im Juli 1939 freiwillig in die französische Armee ge­meldet und eine medizinische Untersuchung durchgemacht. Ich war „bon pour le Service" (diensttauglich) erklärt worden, und da ich einerseits auf meinen Mobilmachungsbefehl wartete, andererseits nicht wusste, ob die Aufforderung, uns internieren zu lassen, auch mich betraf, war ich zur Po­lizei gegangen. Der Kommissar sagte mir, daß mein Engagement in die Ar­mee seinerzeit akzeptiert worden sei, weil man zu jener Zeit noch nicht habe wissen können, welches Land der künftige Feind sein würde. Jetzt, wo feststünde, daß mein eigenes Heimatland dieser „ennemi présomptif“ sei, wäre mein Engagement ungültig, denn die französische Armee könne natürlich keine Engagements von feindlichen Ausländern annehmen. Ich habe nie verstanden, warum man unsere Zeit und die zahllosen Ärzte so sinnlos verschwendet hat, denn es war zur Zeit meines Engagements natür­lich bereits völlig klar gewesen, daß nur Deutschland als Feind in Frage kam. Diese Argumentation ist ein typisches Beispiel für die Verlogenheit, die uns damals umgab und gegen die wir uns vergeblich die Köpfe einrann­ten."

Einige Zeit später wurde den Internierten angeboten, sich stattdessen für fünf Jahre in der Fremdenlegion zu engagieren. Nur sehr wenige Flüchtlin­ge machten von diesem Angebot Gebrauch. Sie hatten in der französischen Armee gegen Hitler kämpfen wollen und waren keineswegs auf Abenteuer aus, und fünf Jahre sind lang, selbst wenn man sich damit die Freiheit er­kauft.

Im Oktober 1939 hieß es plötzlich, die Häftlinge könnten sich auch nur „für die Dauer der Feindseligkeiten" für die Fremdenlegion verpflichten. Teilweise wurde von den Militärbehörden starker Druck auf sie oder auch auf ihre Familienmitglieder ausgeübt, und da die Emigranten durch das La­gerleben unter den unwürdigsten Bedingungen bereits stark demoralisiert waren, hatten die Behörden auch den psychologisch richtigen Moment ge­wählt. Zahlreiche Flüchtlinge verpflichteten sich zum Dienst in der Frem­denlegion. Die übrigen wurden in Arbeitsbataillonen zusammengefasst und als sogenannte Prestatäre unter die Befehlsgewalt der französischen Militär­behörden gestellt. Alle Männer zwischen 17 und 48 Jahren, die sich nicht für die Fremdenlegion gemeldet hatten, mussten als Prestatäre arbeiten. Laut Tartakower und Grossmann gab es Anfang 1940 ungefähr 9000 deutschsprachige Emigranten in der Fremdenlegion und 5000 in den Ar­beitsbataillonen (groupements de prestataires).

Die deutschen und österreichischen Legionäre wurden meist unmittelbar nach ihrer Rekrutierung in Schiffen nach Nordafrika gebracht. Sie verleb­ten die Kriegszeit in Ausbildungszentren der Fremdenlegion, zunächst in deren Hauptquartier bei Sidi-bel-Abbès. Die dort herrschende Stimmung wird von einem ehemaligen deutschen Emigranten, H. Elkan, in seinen Er­innerungen beschrieben: „Am Abend unserer Ankunft, als wir unsere Schlafräume angewiesen be­kamen, wurde uns das Missverständnis unseres Engagements so recht ad oculos demonstriert. Stubenältester war ein älterer farbiger Korporal, der dieses Amt offenbar ständig inne hatte. Er hielt uns eine Ansprache, deren Zweck es war, uns aufzufordern, nichts von unseren Kameraden zu stehlen. Als Begründung hierfür gab er an: „Nous sommes tous ici des malheureux. Unglücklich, unglückselig waren wir zweifellos, aber nicht in dem Sinne, in dem er es meinte. Für ihn gab es keinen Zweifel, daß jemand, der sich in die Fremdenlegion engagiert hatte, ein malheureux sein müsse, ein Gehetz­ter, ein Gescheiterter. . ."

Die Zeugnisse über das Leben in der Legion sind übereinstimmend. Trinker und Verbrecher, die ihre Vergangenheit vergessen machen wollten, im besten Fall Abenteurer, die sich nicht in die Gesellschaft hatten einfügen können, standen unter dem Befehl brutaler und unqualifizierter Unteroffiziere. Die Le­gionäre wurden geschlagen, und Gefängnisstrafen, bei denen ihnen zusätz­lich der Kopf rasiert wurde, waren häufig. Elkan schreibt: „Das Ziel der Ausbildung war, durch Geschrei und Unflätigkeit das Indivi­duum so in Angst und Schrecken zu versetzen, daß es ohne Nachdenken, blindlings, Befehle ausführte und zur Maschine würde. Es kam darauf an, die Persönlichkeit auszustampfen."

Hinzu kam, daß viele dieser Unteroffiziere Deutsche waren, die eine maß­lose Bewunderung für Hitler hatten, was die Lage der Emigranten nicht eben verbesserte. Die Legion war antisemitisch beeinflusst, und Juden wur­den immer zu den unangenehmsten und schwersten Aufgaben herange­zogen.

Nach dem Waffenstillstand im September 1940 wurde eine Anzahl der „Volontäre" wie vorgesehen demobilisiert. Es handelte sich dabei ausnahmslos um diejenigen, die nachweisen konnten, daß für ihren Unterhalt genügend Mittel vorhanden waren und daß sie einen festen Wohnsitz in Frankreich hatten. Alle anderen — und das waren Tausende von deutschen, österreichischen, tschechischen und polnischen Flüchtlingen — wurden auf Anordnung der Vichybehörden in nordafrikanischen Internierungs- und Arbeitslagern zusammengefasst. Im Vergleich zu den dort herrschenden Verhältnissen konnte man das Leben in den französischen Arbeitslagern fast als glücklich bezeichnen. Die Häftlinge in Nordafrika litten unter stän­diger Unterernährung und wurden von perversen Vorgesetzten gequält. Im Krankheitsfalle fehlte es an Medikamenten und an qualifizierten Ärzten, und die Lazarette waren mehr als primitiv. Bei Differenzen mit Vorgesetz­ten, die gerade bei den jüdischen Emigranten häufig vorkamen, wurden die Häftlinge in die berüchtigten Straflager Hadjerat M'Guil oder Ain-el-Ourak geschickt, die in der Legion als „Todeslager" bekannt waren. In der Tat wurden die Flüchtlinge dort zu Tode ausgehungert, gefoltert und ge­peitscht.

Die ehemaligen „Freiwilligen" in Nordafrika arbeiteten größtenteils in Kohlenminen oder am Bau der Trans-Sahara-Eisenbahn, die Dakar mit Al­gier verbinden sollte. Das Klima war mörderisch, und mehrere Hundert Flüchtlinge starben aus Überarbeitung und Erschöpfung. Insgesamt waren 5000 bis 6000 Emigranten beim Bau der Trans-Sahara-Linie eingesetzt. Als zu viele von ihnen durch Tod oder Krankheit ausfielen, ordneten die Vichybehörden im Mai 1941 in Marseille eine Razzia auf jüdische Emigran­ten an, „um die Lücken zu füllen". Die Unglücklichen wurden an Bord der SS-Massilia nach Algerien geschifft und wie die ehemaligen „Legionäre" interniert. Sie sollten erst mit der Landung der Alliierten in Nordafrika ihre Freiheit wiedererlangen.

Im Sommer 1940 waren die meisten Internierungslager in Frankreich in Arbeitslager umgewandelt. Die Prestatäre trugen Uniform und erhielten den Sold regulärer Soldaten. Ihre Familien bekamen eine staatliche Unter­stützung, und soweit sie vom Präfekten des Departements keine Aufent­haltserlaubnis erhielten, siedelten sie sich um die Lager herum an. Für eini­ge Monate herrschte in den Prestatärlagern eine relative Freizügigkeit, und für manche Flüchtlinge, die vorher keine legale Arbeitsmöglichkeit gehabt hatten und allein auf die Unterstützung der Hilfskomitees angewiesen wa­ren, bedeutete dies eine vergleichsweise zufriedenstellende Lösung.

Noch ein abschließendes Wort zur Haltung der französischen Behörden den deutschen und österreichischen Volontären gegenüber, die sich sowohl un­ter den Legionären als auch unter den Prestatären befanden. Nur sehr we­nige sind durch die Tatsache, daß sie sich zum Dienst in der französischen Armee gemeldet hatten, gerettet worden. Manchen wurde das sogar zum Verhängnis: Fast alle im Mai 1941 in den Lagern Pithiviers und Beaune-la-Rolande internierten Juden waren ehemalige Freiwillige. Die deutschen Besatzungsbehörden hatten ihre Namen und Adressen aus den Listen der Rekrutierungsbüros. Viele Volontäre wurden direkt aus den Arbeits­lagern deportiert. Dadurch, daß man sie vor ihrer Internierung demobili­siert hatte, waren sie ihres militärischen Status und des damit verbunde­nen Schutzes beraubt. Als einzige „Gunst" sollten die französischen Behör­den den ehemaligen Volontären gewähren, eine Organisation (Amicale) zu bilden . Laut Vanino[34] waren am 8. Oktober 1942 bereits 782 ihrer Mitglie­der deportiert.

Der Blitzkrieg im Westen und die zweite Internierungswelle

Während des einjährigen Stellungskrieges („la drôle de guerre") geschah an der Westfront Deutschlands praktisch gar nichts. Am 10. Mai 1940 begann die große deutsche Offensive. Nach der Bombardierung und Übergabe Rot­terdams kapitulierte Holland am 14. Mai. Eine holländische Exilregierung bildete sich in London. Am 17. Mai fand die Übergabe Brüssels statt, das zur offenen Stadt erklärt worden war, und am 28. Mai kapitulierte Belgien. Während König Leopold III. in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, wur­de in London auch eine belgische Exilregierung gebildet.

Am 10. Mai griffen die deutschen Truppen Sédan an. Die französische Ar­mee erwies sich mit ihrer unmodernen Ausrüstung als technisch weit unter­legen, und der Generalstab wurde strategisch überrumpelt. Am 14. Juni wurde Paris kampflos besetzt, und am 16./l7. Juni bat die neue französi­sche Regierung um Waffenstillstand.

Das Waffenstillstandsabkommen wurde am 22. Juni unterzeichnet. Frank­reich wurde in drei Zonen aufgeteilt, die besetzte, die unbesetzte und die verbotene Zone. Als verbotene Zone wurden Elsass-Lothringen und die Nord-Departements erklärt, d.h. die Gebiete östlich und nördlich der Linie Dôle, Chaumont, Saint-Dizier, Sainte-Mènehould, Rethel, Laon, Amiens und Abbeville. Die besetzte Zone umfasste alle Gebiete nördlich der Loire und die gesamte Atlantikküste. Einige Départements im Südosten kamen unter italienische Verwaltung. In der unbesetzten Südzone fungierte eine französische Regierung, die zwar Exekutivgewalt hatte, in ihren Entschei­dungen jedoch dem deutschen Militärbefehlshaber in Frankreich verant­wortlich war. Der Sitz dieser Regierung unter dem Ministerpräsidenten Pierre Laval war in Vichy. Am 10. Juli wurde der greise Marschall Petain zum französischen Staatsoberhaupt erklärt.

In der besetzten Zone gab es keinerlei französische Verwaltung. Sie war, wie jede deutsche Provinz, unter die Befehlsgewalt eines Gauleiters gestellt. Die fünf nördlichen Departements Aisne, Ardennes, Nord, Pas-de-Calais und Somme fielen administrativ in den Bereich des deutschen Militärbefehlshabers in Belgien.

Wenige Tage nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Benelux-Staaten und Frankreich beschloss die Pariser Regierung eine zweite Internierungsmaßnahme gegen die deutschen und österreichischen Flüchtlinge. Diesmal waren alle Männer von 17 bis 65 Jahren und alle Frauen von 17 bis 55 Jahren davon betroffen. Ausgenommen waren einzig schwangere Frauen und Mütter von Kindern unter 17 Jahren.

Dieser Internierung ging eine neue „Fünfte-Kolonne-Psychose" voraus. Wie M. Koessler in „Enemy Alien Internment" berichtet, war in Frankreich plötzlich das Gerücht laut geworden, daß die jüdischen Flüchtlinge in Hol­land in Wahrheit Nazispione gewesen seien und bei der Besetzung kollaboriert hätten. Den Internierungsbefehl hatte daraufhin der damalige franzö­sische Innenminister George Mandel gegeben, der selbst Jude war.

Die Lagerkommandanten hatten bei dem Vormarsch der Deutschen keiner­lei Instruktionen, was mit den Häftlingen geschehen sollte, wenn die natio­nalsozialistischen Truppen das Gebiet besetzten. Man kann sich das Chaos jener Tage in Frankreich gar nicht groß genug vorstellen. Fünf Millionen Belgier, Holländer und Nordfranzosen zogen in einem nicht enden wollen­den Exodus Richtung Südfrankreich — zu Fuß, mit Fahrrädern und mit Karren. Autos, für die es kein Benzin mehr gab, wurden am Straßenrand stehengelassen. Arthur Koestler erinnert sich:

„Die lehmbespritzten Autos der Flüchtlinge aus dem Norden — Matratzen auf dem Dach, Fahrräder am Trittbrett festgebunden und vollgestopft mit verstörten Menschen — durchquerten Paris wie eine Schar vom Sturm ver­scheuchter Vögel, und die Menge auf der Straße schaute ihnen nach . .. Der Junge mit Plattfüßen aus unserem Bistro, der im März eingezogen wor­den war, irrte mit zerknautschten Zivilkleidern auf dem Boulevard de Sébastopol herum. - Ich dachte, Sie sind an der Front?

Die Front ist da, wo die Leutnants sind. Mein Leutnant hat im Wagen die Flucht ergriffen. Für mich gibt es keine Front mehr.

Aber wird man Sie nicht als Deserteur erschießen?

Erstmals muss man mich finden, und nächste Woche müsste man die hal­be Armee erschießen. Man wird sehen, ob sich die andere Hälfte dazu be­reit findet."[35]

Niemand dachte in diesen Tagen des Zusammenbruchs an die deutschen Flüchtlinge, die in ihren Lagern saßen wie in einer Falle. Einige Komman­danten öffneten auf eigene Verantwortung deren Tore, als die Deutschen schon fast davor standen. Die Emigranten zogen dann mit dem übrigen Flüchtlingsstrom nach Süden. Andere Kommandanten lieferten die Lager intakt den Nationalsozialisten aus.

Panik ergriff die Emigranten, und sie verstärkte sich noch, als die Bedin­gungen des Waffenstillstandsabkommens bekannt wurden. Der Artikel Nr. 19 des Abkommens lautete:

„Die französische Regierung verpflichtet sich, alle Deutschen, die von der deutschen Regierung in Frankreich namentlich aufgeführt werden, wie auch die in französischen Besitzungen, Kolonien, Territorien und Mandats­gebieten, auszuliefern. Die französische Regierung verpflichtet sich zu ver­hindern, daß deutsche Kriegs- und Zivilgefangene in Frankreich nach fran­zösischen Besitzungen und anderen Ländern gebracht werden. Bezüglich der Gefangenen, die bereits in Lager außerhalb Frankreichs gebracht wur­den, sowie kranke und verwundete deutsche Gefangene, die nicht transpor­tiert werden können, sollen genaue Listen mit den Wohnorten angefertigt werden. Das deutsche Oberkommando nimmt sich der kranken und verwundeten deutschen Kriegsgefangenen an."

Dieser Artikel des Waffenstillstandsabkommens brachte alle Personen, die den nationalsozialistischen Behörden als Gegner ihres Regimes bekannt wa­ren oder sonst auf schwarzen Listen standen, in direkte Lebensgefahr. Vie­le von ihnen zogen den Selbstmord der drohenden Auslieferung vor. In den Wochen vor und nach dem französischen Zusammenbruch nahmen sich un­ter den bekannten Persönlichkeiten Ernst Weiss, Walter Hasenclever, Carl Einstein und zahlreiche andere das Leben. Willy Münzenberg wurde erhängt im Wald aufgefunden; ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte, ist nie geklärt worden. Walter Benjamin verübte Selbstmord, als er bei einem illegalen Grenzübertritt nach Spanien verhaftet und von den frankistischen Behörden eingekerkert wurde, um wieder nach Frankreich abgeschoben zu werden.

Viele deutsche und österreichische Flüchtlinge versuchten, Frankreich mit teilweise völlig wertlosen (da unbenutzbaren, z.B. chinesischen oder siame­sischen) Überseevisen zu verlassen. Diese Visen dienten ihnen dazu, spani­sche und portugiesische Transitvisen zu erhalten, wodurch sie sich zunächst einmal aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen konnten. In Lissabon wollten sie dann ihre Weiterwanderung organisieren.

In den ersten beiden Monaten nach dem Waffenstillstand war die Flucht relativ einfach. Die Vichybehörden gewährten zwar keine Ausreisevisen, aber die USA gaben zu dieser Zeit relativ leicht Einreisevisen, und Spanien und Portugal autorisierten im Allgemeinen die Durchreise der Flüchtlinge.

Im Oktober kam Reichsführer-SS Heinrich Himmler zu einem offiziellen Besuch nach Madrid. Spanien änderte daraufhin seine Politik den Flücht­lingen aus Frankreich gegenüber und verbot Polen sowie deutschen und österreichischen Staatsbürgern ohne gültigen (d.h. vom nationalsozialisti­schen Regime ausgestellten) Reisepass sowie allen Männern im militär­pflichtigen Alter die Durchreise.

Am 27. September 1940 wurde eine Demarkationslinie zwischen der be­setzten und der unbesetzten Zone Frankreichs gezogen. Die Besatzungs­macht hatte durch einen Erlass verfügt, daß Juden diese Linie nicht über­schreiten dürften. Trotzdem gelang es zahlreichen Emigranten, während der ersten Monate in die unbesetzte Zone zu fliehen. Sogenannte „Passeurs", Bewohner der Grenzgegend, brachten sie, gewöhnlich gegen hohe Bezahlung, auf Waldwegen und über Felder illegal nach Vichyfrankreich. Das Schicksal der Emigranten in den beiden Zonen ist unterschiedlich. Wir werden auf die Lebensbedingungen, Gefahren und Rettungsmöglichkeiten im Folgenden gesondert eingehen.

Vom Waffenstillstand bis zur Vollbesetzung

Das Schicksal der Emigranten in Vichyfrankreich

Die Lager

Rund 25 000 deutsche, österreichische und saarländische Flüchtlinge waren nach dem Waffenstillstand in den Lagern von Vichyfrankreich interniert. Weitere Tausende lebten meist mittellos in verschiedenen Orten, und zahl­reiche Emigranten warteten auf Ausreisevisen.

Die erste anti-jüdische Maßnahme des Pétain-Regimes, von der ein Großteil der noch in Freiheit befindlichen Emigranten betroffen war, erfolgte fast unmittelbar nach der Besatzung. Am 4. Oktober 1940 wurde ein Dekret erlassen, das die Internierung von „Ausländern jüdischer Rasse" oder ihre Einweisung in Zwangsresidenzen möglich machte. Die Entscheidung dar­über lag beim Präfekten. Ein Flüchtling in Zwangsresidenz stand unter ständiger polizeilicher Überwachung und hatte Arbeits- und Reiseverbot. Er mußte also über Geld verfügen, um für seinen Unterhalt aufzukommen.

In den Lagern der Südzone befanden sich 1940 demnach die „feindlichen Ausländer" der ersten und zweiten Internierungswelle sowie sonstige „Aus­länder jüdischer Rasse" (meistens Ostjuden), die nach dem Erlass vom 4. Oktober verhaftet worden waren. Hinzu kamen die 7 500 Juden aus der Pfalz, aus Baden und aus einem Teil Württembergs, die bei einer Razzia festgenommen und vom Gauleiter des Gebietes am 22. Oktober 1940 in Zügen nach Südfrankreich geschickt worden waren. Die Vichybehörden, von der Ankunft dieser Juden nicht unterrichtet, hielten die Züge an der Grenze fest und forderten „Erklärungen" vom Reich. Doch die Proteste Lavals erwiesen sich als ergebnislos. Vichy mußte die badensischen Juden aufnehmen, und sie wurden im Pyrenäenlager Gurs interniert. Nur wenige, die auf die Mithilfe von Verwandten oder einflussreichen Freunden zählen konnten, wurden befreit. Alle anderen wurden später über Drancy nach Auschwitz deportiert, wo mehr als 95% von ihnen umkamen.

Die Lager in der französischen Südzone waren in drei verschiedene Katego­rien eingeteilt. Neben den „Internierungslagern" (camp d'internement) für „unerwünschte Personen" (personnes indésirables), die direkt dem Innen­ministerium unterstellt waren, gab es noch die sogenannten „Auffang- oder Versammlungszentren", was ein weniger schockierender Ausdruck für La­ger war, und das Emigrationslager „Les Milles" bei Aix-en-Provence. Die beiden letzteren wurden vom Präfekten des entsprechenden Departements verwaltet. Die wichtigsten Lager in der unbesetzten Zone waren Le Vernet, Rieucros, Gurs, Argèles, Saint-Cyprien, Récébédou, Noé, Septfonds, Rivesaltes. Ferner waren Lager in Fort-Carré, Catus, Vierzon, Villerbon, Saint-Louis, Levant, Percares, Laguiche. Hinzu kommen viele Arbeitszentren.

Die Lebensbedingungen waren von Lager zu Lager verschieden, jedoch im Allgemeinen schlecht. Die französischen Lager waren keine Vernichtungs­zentren wie die in Osteuropa, und die Behandlung der Häftlinge war auch nicht mit der in den Lagern wie etwa Mauthausen vergleichbar. Trotzdem hatten die beiden berüchtigsten unter ihnen — Gurs und Le Vernet — eine Todesrate von 5,8% in drei Monaten. In Saint-Cyprien und Argèles war sie kaum niedriger. Die Häftlinge starben an Unterernährung und aus Erschöp­fung. Wegen der mangelhaften hygienischen Vorrichtungen entstanden überall Epidemien (Typhus, Ruhr), denen teilweise mehrere Dutzend Per­sonen pro Tag zum Opfer fielen. Die klimatischen Bedingungen waren im Allgemeinen außerordentlich hart. Das Lager von Gurs zum Beispiel war auf einem Hochplateau in den Pyrenäen gelegen, wo es im Sommer heiß und staubig, im Winter eisig kalt war. Die Sturzregen im Frühling und Herbst verwandelten den Lehmboden des Lagers in metertiefen Schlamm.

Einem Bericht der Quäker (La Société des Amis) zufolge waren 1941 in Gurs 15 000 Menschen interniert, davon 8000 Frauen, 5000 Kinder und 1200 Personen zwischen 70 und 100 Jahren. Der älteste Lagerinsasse war 105 Jahre alt. Es handelte sich dabei neben badensischen Juden größten­teils um Ostjuden. Die tägliche Todesrate schwankte zu dieser Zeit zwi­schen 15 und 20. Es gab zwar 50 Ärzte unter den Häftlingen, aber keine Medikamente, und die Lagerverwaltung autorisierte sie erst spät, ihren Be­ruf auszuüben. In einer Baracke wohnten 60 und mehr Personen. Außer winzigen Kohleöfchen gab es keine Heizung, und die hygienischen Installa­tionen waren jämmerlich. Alle Häftlinge waren von Ungeziefer befallen, und einmal bedrohte sogar eine Ratteninvasion die kleinsten unter den Kindern. Die Essrationen lagen im Oktober 1941 bei 1188 Kalorien, im März 1942 bei 1070 und im Juni bei 958. Die Insassen verloren innerhalb weniger Wochen zwischen 20 und 30 Pfund, und wahrscheinlich wären alle verhungert, wenn keine Esspakete von Hilfsorganisationen gekommen wä­ren. Im Prinzip war es zunächst verboten, Pakete zu empfangen, doch er­wiesen sich die Lagerleiter als bestechlich. Außerdem hatte sich ein florie­render Schwarzmarkt entwickelt. Begüterte Häftlinge konnten alles kaufen, wonach ihr Herz begehrte, bis zu Alkohol und Schokolade. Welche Wir­kung das auf die Stimmung der anderen hatte, lässt sich leicht ausmalen.

Die Zustände im Lager Le Vernet „für Unerwünschte" waren ebenfalls ka­tastrophal. Arthur Koestler hat in seinem Buch „The Scum of the Earth" ausführlich die Entbehrungen beschrieben, die die Häftlinge dort zu erlei­den hatten. Da es sich um „gefährliche Elemente" handelte, wurden sie außerdem sadistisch behandelt. Neben Gefängnisstrafen in einem bald über die Grenzen des Lagers hinaus berüchtigten und von den Häftlingen ge­fürchteten Kerker, in dem es von Ungeziefer wimmelte, gab es Prügelstra­fen und sonstige Züchtigungen. Verschiedene Häftlinge wurden bei Flucht­versuchen erschossen. Die Kontakte zur Außenwelt in diesen beiden La­gern waren auf ein Minimum beschränkt. Alle Briefe wurden zensiert, und Familienbesuche waren bis 1941 verboten.

Das Lager in Argèles war für die Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs gebaut worden. Anfang der vierziger Jahre war es in vier Sektionen unter­teilt. In der ersten lebten Frauen und Kinder, die nach dem Fall Barcelonas Spanien verlassen hatten. In der zweiten waren Mitglieder der früheren Internationalen Brigaden. Die Behandlung dieser Männer, die einst der Stolz der europäischen Bewegung gewesen waren, gehört zu den schockierendsten Aspekten dieser finsteren Zeit. Koestler berichtet, daß die Ba­racke in Le Vernet, in der die ehemaligen Brigadisten hausten, die „Station der Aussätzigen" genannt wurde. Die Bewohner dieser Baracke waren schmutziger, ärmer und ausgemergelter als alle anderen Lagerinsassen, und sie hatten keinerlei Hoffnung mehr. Sie erhielten nie einen Brief und schrieben an niemand. Die meisten hatten ihr letztes Hemd für ein Päck­chen Zigaretten weggegeben.

In der dritten Abteilung des Lagers Argèles befanden sich deutsche, öster­reichische, russische und polnische Emigranten, meist Juden. Die vierte war die Strafabteilung für „Verdächtige" und Gemeinverbrecher. Argèles war wiederholt Überschwemmungen ausgesetzt, und Tag und Nacht fegte ein heftiger Wind darüber hinweg. Die hygienischen Installationen waren wie in allen französischen Lagern unzureichend. In Argèles waren 1940/41 zwischen 10 und 15 000 Personen interniert. Etwa ein Fünftel davon wa­ren deutsche und österreichische Flüchtlinge.

Das Lager Rivesaltes wurde wegen der unerträglichen Hitze in den Sommer­monaten „le Sahara du Midi" (die Sahara von Südfrankreich) genannt. Da es sich um ein ehemaliges französisches Militärlager handelte, waren dort die Einrichtungen besser als in den anderen Lagern, die gewöhnlich in aller Eile für die spanischen Flüchtlinge aufgebaut worden waren. 1940 beher­bergte Rivesaltes 15 000 Häftlinge. Es wurde 1942 zum Sammellager für alle Flüchtlingskinder ohne Eltern. Die Hilfsorganisation OSE, die Société des Amis (Quäker) und der Secours Suisse versuchten, die Kinder in Fami­lien unterzubringen. Trotz ungeheurer Anstrengungen gelang das nur in bescheidenem Maße: Am Ende des Jahres lebten immer noch 2 500 Kinder im Lager.

Nach 1940 verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Insassen aller südfranzösischen Lager. Das ist nicht nur auf die antisemitische Poli­tik der Vichyregierung zurückzuführen. Die Besetzung hatte in ganz Frank­reich wegen der durch den militärischen und politischen Zusammenbruch verursachten völligen Desorganisation der nationalen Wirtschaft und der beträchtlichen Beschlagnahme durch die Deutschen eine starke Lebensmit­telknappheit zur Folge.

Ein Jahr später beschloss das Laval-Kabinett endlich, sich für die Lager der Unterstützung der 21 ausländischen Hilfsorganisationen in Frankreich zu bedienen, und es wies 300 internierte Ärzte an, in den Lagern ihren Beruf auszuüben. Obwohl die beiden Hauptprobleme — mangelnde Hygiene und Unternährung — damit keineswegs beseitigt waren, verbesserte sich die Lage der Häftlinge ein wenig. Viel hing dabei vom Verwaltungspersonal der einzelnen Lager ab. Wenn auch von der Regierung für die Ernährung 11.50 F pro Person und Tag ausgesetzt waren, so erhielten die Internierten in den meisten Fällen Essrationen von höchstens einem Viertel dieses Wer­tes. Den Rest behielt die Lagerleitung „zu eigenem Gebrauch".

Am 28. November 1941 wurde von der Vichyregierung ein neuerliches De­kret zur Bildung von „Gruppen ausländischer Arbeiter" (Groupements de Travailleurs Etrangers, GTE) erlassen, die beim „Wiederaufbau der franzö­sischen Wirtschaft mithelfen" sollten. Die bereits bestehenden Prestatärgruppen wurden auf diese Weise in TE-Gruppen umgewandelt und noch nicht internierte Ausländer in Arbeitsbataillone zusammengefasst. Abbé Glasberg zufolge (der während der vierziger Jahre unermüdlich versuchte, den Flüchtlingen Erleichterungen zu verschaffen) gab es im Frühjahr 1942 rund 50000 GTE-Arbeiter. Die Gruppen wurden in sieben Einheiten ge­gliedert, die unter sechs Regionen in der Südzone aufgeteilt wurden. Sie unterstanden dem „Kommissariat für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ in Vichy. Jede der Gruppen, die in Lagern untergebracht waren, stand un­ter der Aufsicht eines ehemaligen Offiziers und fünf bis sechs Wächtern (surveillants). Der Offizier erhielt einen Monatslohn von zu jener Zeit astro­nomischer Höhe (4500 F), und das Wachpersonal freie Ernährung und einen Monatslohn von 1000 bis 2000 Francs. Eine TE-Gruppe umfasste gewöhnlich 300 Mann.

Die TE-Gruppen arbeiteten entweder am Bau von Nationalstraßen oder im Forstwesen und in der Landwirtschaft. Viele von ihnen wurden von Bauern als Tagelöhner angestellt und üblicherweise durch vier Francs pro Tag ent­lohnt. Verheiratete TE-Männer, deren Frauen vom Präfekten des Departe­ments eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten, durften mit ihren Familien zusammenwohnen. Diese Fälle waren jedoch selten, und alle übrigen erhiel­ten nur alle sechs Monate zehn Tage Urlaub, und auch das oft mehr im Prinzip als in der Realität. Jeder TE bekam theoretisch eine Arbeiterlebensmittelkarte mit höherer Fettration (550 gr. statt 450 gr. pro Monat), Brotration (300 gr. statt 275 gr. pro Tag) und Fleischration (260 gr. statt 180 gr. pro Woche). Die ausgeteilten Rationen waren jedoch erheblich kleiner. Wie in so vielen Be­reichen der Vichyverwaltung war auch das Wachpersonal und die Lager­leitung der GTE in großem Maße korrumpiert und steckte so einiges in die eigene Tasche, was für die Arbeiter bestimmt war.

Eine Quelle des Profits für die Verwaltung waren auch die Spezialisten un­ter den Arbeitern. Ingenieure, Architekten etc. erhielten die Erlaubnis, Einzelstellen selbst in großer Entfernung vom Lager anzunehmen. Ihnen selbst wurde jedoch nur ein Bruchteil der normalen Löhne ausgezahlt; der Rest ging an „spezielle Regierungsfonds".

Ein TE ohne spezielle Qualifikationen erhielt für seine Arbeit 50 Centimes pro Tag, was damals dem Lohn eines gewöhnlichen Soldaten entsprach. Für Verheiratete war im Prinzip eine Unterstützung von sieben Francs pro Tag für seine Frau und 4,50 Francs für jedes Kind vorgesehen. Aussagen von Emigranten zufolge wurde diese jedoch häufig nicht ausgezahlt.

Wie ehemalige Emigranten berichten, war das Wachpersonal der Arbeits­bataillone sehr antisemitisch eingestellt. Juden wurden in Spezialgruppen zusammengefasst und gewöhnlich nicht autorisiert, individuelle Anstellun­gen anzunehmen. Die jüdischen Einheiten wurden zu Schwerarbeit abkom­mandiert (Steinbruch, Straßenbau etc.) oder zu gesundheitsschädlichen und gefährlichen Aufgaben herangezogen. So war eine jüdische Gruppe in einer Arsenik-Fabrik in Anzou (Haute Loire) beschäftigt, und eine weitere arbeitete in einer Pulverfabrik.

Um aus den Arbeitsbataillonen entlassen zu werden, mußte man von einem Arzt als „untauglich" (inapte) erklärt werden. In einem solchen Fall wurde man in ein Lager für Invalide eingegliedert, wo man außer unter den unge­sunden Lebensbedingungen und der Enge auch noch unter Untätigkeit zu leiden hatte. Nach 1942 befanden sich diese Menschen zudem in unmittel­barer Gefahr: Deportationen waren häufig, da die nationalsozialistischen Behörden, wie in Deutschland, die physisch Schwachen an erster Stelle „liquidierten". Sonst bestand Aussicht auf Befreiung aus den Arbeitsbatail­lonen nur, wenn man eine Möglichkeit zur Emigration vorweisen konnte.

In den Jahren nach 1942 desertierten zahlreiche jüngere Mitglieder der TE-Gruppen, um zur Résistance zu stoßen. Es gab keine speziellen jüdischen Résistance-Gruppen und schon gar nicht deutsch-jüdische. Der „Maquis" rekrutierte seine Mitglieder aus der örtlichen Bevölkerung, denen sich spä­ter einige Städter anschlössen. Naturgemäß war die Beteiligung der Juden besonders stark - die Verfolgungen machten sie disponibler als andere, zu begreifen und zu handeln -, und es ist bekannt, daß viele Emigranten in der französischen Résistance mitgekämpft haben. Ihr Schicksal während dieser Zeit gleicht dem in allen „Maquis": Ein Leben voller Gefahren, Verlusten und kleinen und großen Siegen. Man kann darüber in den Memoiren ehe­maliger Widerstandskämpfer nachlesen.[36]

Die Kundt-Kommission und die ersten Auslieferungen

Bereits im Juli 1940 fand der Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens in Frankreich seine erste Anwendung. Alle Internierungslager in der besetz­ten und in der unbesetzten Zone wurden von der aus deutschen Militär- und Zivilbeamten bestehenden Kundt-Kommission besucht, die von einem General dieses Namens geleitet wurde. Ihre Aufgabe war, alle „wahren Deutschen" zu „befreien und zu repatriieren". Außerdem hatten sie Listen von Gegnern des nationalsozialistischen Regimes, die verhaftet und direkt aus den Lagern in die Hände der Gestapo geliefert werden sollten. Diese Listen lagen jedoch nicht nur dort sondern auch an den Grenzübergängen und in den Häfen vor. Als Anfang Februar 1941 der Schriftsteller Walter Mehring, dem es mit Hilfe des „Emergency Rescue Committee" gelungen war, ein Visum für die USA zu bekommen, in Marseille an Bord gehen wollte, hielt ihn ein Beamter der „Sûrete Nationale" (Geheimpolizei) zurück. Wie Varian Fry erzählt[37], holte der Beamte aus einem Schubfach ein Papier, auf dem Mehrings Name stand und die Bemerkung: „Verboten, Frankreich zu verlassen. Entscheidung der Kundt-Kommission." Mehring befürchtete schon, daß dies sein Ende sei. Der Beamte gab ihm jedoch sei­nen Ausweis zurück. „Es muss sich um einen anderen Walter Mehring han­deln", sagte er.

Insgesamt wurden nur wenige führende Oppositionspolitiker im Exil durch die Kundt-Kommission verhaftet. Größtenteils waren auch in Frankreich diese Personen gut organisiert und in Verbindung mit französischen Anti­faschisten, die ihnen halfen, unterzutauchen. Viele konnten mit Notvisen in die USA und nach Mexiko entkommen.

Dennoch gab es einige eklatante Fälle von Auslieferungen. Der erste wich­tige Fall war der deutsche Industrielle Fritz Thyssen, der lange Zeit Hitler unterstützt und sich dann, bei Ausbruch des Krieges, gegen ihn gewandt hatte. Er wurde in seinem Hotel in Nizza von französischen Sicherheits­beamten festgenommen, die eigens zu diesem Zweck aus Vichy gekommen waren.

Noch aufschlussreicher und charakteristisch für die Mentalität zahlreicher Emigranten, die ihre neue Situation nicht wirklich begriffen hatten, ist das Schicksal der beiden ehemaligen Minister der Weimarer Republik, Ru­dolf Breitscheid und Rudolf Hilferding. Sie wohnten 1941 in Zwangsresi­denz im Hotel Forum von Arles. Als Thyssens Entführung bekannt wurde, beschloss Varian Fry, der von der amerikanischen Organisation „Emergency Rescue Committee" (später Fry-Komitee genannt) nach Frankreich ge­sandt worden war, um eine Rettungsaktion für die bekanntesten Anti­faschisten durchzuführen, die beiden sofort in Sicherheit zu bringen. Es war ihm klar, daß Hilferding und Breitscheid, prominenteste Vertreter der deutschen Opposition im Exil, sich in Lebensgefahr befanden. Eine Flucht zu organisieren war schwierig, da beide zu bekannt waren, um mit falschen Papieren über die Grenze zu kommen. Schließlich gelang es Fry, amerikanische Einreisevisen zu erhalten, und er hatte zwei Schiffs­plätze in Aussicht. Durch einen Verbindungsmann aus dem Marseiller „Milieu" hatte er einen Wagen beschafft, der die beiden von Arles nach Marseille bringen sollte. Das war in den ersten Monaten nach dem Waffen­stillstand in der Südzone fast unmöglich, da die einzigen zur Verfügung stehenden Autos entweder von Mitgliedern der französischen Polizei oder von Mitgliedern der deutschen und italienischen Waffenstillstandskommission benützt wurden. Taxis durften nur innerhalb der Stadtgrenzen fahren.

Zu Frys größter Überraschung kam der Wagen leer zurück. Breitscheid und Hilferding hatten sich geweigert einzusteigen, da sie soeben ein Telegramm aus Amerika erhalten hatten, daß die Vichybehörden ihnen die bisher strikt verweigerten Ausreisevisen endlich bewilligten. Sie wollten in Arles warten, bis sie Frankreich auf legalem Wege verlassen könnten.

In der Tat erhielten sie wenige Tage später von der Präfektur Ausreisevisen. Sie begaben sich nach Marseille, um ihre Visen in Empfang zu nehmen und Schiffsplätze zu reservieren. Da keine Kabinen mehr frei waren, zögerten sie und da ihre Aufenthaltsgenehmigung in Marseille abgelaufen war, kehr­ten sie, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, zurück nach Arles.

Am nächsten Tag teilte ihnen der Unterpräfekt in Arles mit, daß auf Anweisung des Innenministeriums in Vichy ihre Ausreiseerlaubnis annulliert worden sei. Die beiden Ex-Minister der Weimarer Republik wurden 24 Stunden später im Hotel Forum von Polizeibeamten festgenommen. Hilfer­ding wurde kurz darauf in einer Zelle des Pariser Gefängnisses „La Santé" erhängt aufgefunden. Was Breitscheid betrifft, gaben die Deutschen zwei­einhalb Jahre nach seiner Auslieferung bekannt, daß er und der ehemalige Generalsekretär der KPD, Ernst Thälmann, bei einem amerikanischen Bombenangriff auf das Konzentrationslager Buchenwald ums Leben ge­kommen seien. Die US-Behörden erklärten jedoch, daß an jenem Tag kein Angriff auf das Lager oder dessen Umgebung stattgefunden habe. Der Ver­dacht liegt nahe, daß die beiden Politiker auf Anweisung Himmlers umge­bracht wurden.

Wir haben diesen Fall so ausführlich geschildert, weil er uns in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich erscheint. Er beleuchtet die Methoden der Natio­nalsozialisten, die ihre politischen Gegner auch über ihre Grenzen hinweg verfolgten, um sie zu vernichten. Doch haben das letztlich alle totalitären Regimes getan. Wichtiger für das Verständnis der damaligen Lage in Frank­reich scheint das Vorgehen der Vichybehörden, die sich widerstandslos dem Begehren der Besatzungsmacht unterwarfen. Außerdem sehen wir, wie zwei verdienstvolle Männer, deren Intelligenz außer Frage steht, ihre Situation völlig falsch einschätzten und sich in Sicherheit wiegten, obwohl sie oft und von verschiedenen Seiten her gewarnt wurden. Das erklärt sich teilweise aus der Tatsache, daß Breitscheid jahrelang Vertrauensmann bei den verschiedenen französi­schen Regierungen vor Laval gewesen war und teilweise ihr Berater für deutsche Angelegenheiten. Aus diesem Grund verließ er sich auf seine Beziehungen. Das Beispiel dieser Männer ist typisch für den völligen Mangel an Anpassungsfähigkeit zahlreicher Emigranten, die über ein gewisses Le­galitätsdenken und den Glauben an Ordnung und Obrigkeit nie hinweg­kamen. Sie sind nicht die einzigen Hitlergegner, denen der Artikel Nr. 19 des Waffenstillstandsabkommens zum Verhängnis wurde. Grossmann[38] nennt folgende Personen, die unter anderen von den Vichybehörden aus­geliefert wurden: Theodor Wolff, ehemaliger Chefredakteur des „Berliner Tageblatts", der 1943 im Konzentrationslager Oranienburg umkam, die politischen Flüchtlinge Niemeyer, Carl Einstein, Füllenbach, Heinrich Haf­ner, Valentin Hartig, Gertrud Kersten-Hill, Kieras, die sozial-demokratische Abgeordnete Johanna Kirchner, Richard Kirn, Fritz Klein, Hermann Petry und dessen Sohn, Anna Bauer, Walter Fuchs, Max Holle.

Die Arbeit der Hilfskomitees nach dem Waffenstillstand

Wir haben beschrieben, wie sich zu Beginn der dreißiger Jahre aus Einzel­initiativen und der Arbeit schon bestehender Hilfskomitees in Frankreich allmählich ein weit verzweigtes Hilfswerk zur Unterstützung der Hitlerflücht­linge organisiert hatte. Mit der Besetzung Frankreichs änderte sich der Aufgabenbereich dieser Organisationen, wie sich die Lage der Flüchtlinge ge­ändert hatte. Jetzt bestand für die meisten von ihnen akute Ge­fahr. Für die Komitees galt es fortan, die Lager zu betreuen und Erleichte­rungen für die Frauen und Kinder zu schaffen, deren Männer interniert wa­ren. Außerdem mussten sie versuchen, besonders gefährdete Personen aus Frankreich hinauszubringen. Der erste Aufgabenbereich war legal, der zweite illegal, jedoch kam es oft zu Überschneidungen. Jedes illegal arbei­tende Komitee übte, einerseits zur Deckung, andererseits weil die Schütz­linge auch materielle Not litten, irgendeine normale Wohlfahrtstätigkeit aus.

Die erste größere Initiative für das Rettungswerk besonders Gefährdeter wurde zunächst von einigen amerikanischen Hilfskomitees ergriffen. Die Organisationen „National Refugee Service" (jüdisch), „Jewish Labor Committee" (jüdisch sozialistisch), „International Relief Committee" und „Emergency Rescue Committee", die sich später vereinigten, stellten Li­sten auf, die sie dem „President's Relief Control Board" unter George L. Warren unterbreiteten. Dieser leitete sie nach eingehender Prüfung an das „State Department" weiter, welches bei positiver Beurteilung des Falles den amerikanischen Konsul in Marseille oder Lissabon anwies, dem Emi­granten ein Einreisevisum auszustellen. Das amerikanische Außenministe­rium hatte sich in der Tat von den dramatischen Schilderungen der Vertre­ter der bereits in Frankreich arbeitenden Hilfskomitees überzeugen lassen, Notvisen auszustellen, die den normalen Einwanderungsquoten der USA nicht Rechnung trugen.

Bei der Aufstellung der Listen hing viel vom guten Willen der örtlichen Konsuls ab. Wie Varian Fry, der im Auftrag des „Emergency Rescue Com­mittee" ein Jahr lang in Frankreich die Ausreise gefährdeter Emigranten organisierte, in seinem Buch „Surrender on Demand" berichtet, erwies sich der amerikanische Konsul in Marseille als besonders verständnisvoll und li­beral. Mit seiner Hilfe konnten Hunderte von Flüchtlingen Frankreich ver­lassen.

Frys Arbeit war außerordentlich delikat und teilweise gefährlich, wie die all seiner Kollegen, die Emigrantenhilfe leisteten. Ein Flüchtling mit einem Notvisum befand sich noch keineswegs in Sicherheit. Die Vichybehörden stellten zunächst gar keine und später nur sehr wenige Ausreisevisen aus, bis sie 1942 die Grenzen endgültig schlössen. Spanien und Portugal gewähr­ten nur ganz bestimmten Kategorien unter den Flüchtlingen Transitvisen. Die Auswanderung mußte deshalb häufig illegal erfolgen. Fry organisierte für zahllose Emigranten falsche Papiere und, wenn sie noch kein amerika­nisches Einreisevisum hatten, „Endvisen" aus Drittländern, die die Durch­reise durch die iberische Halbinsel möglich machten. Anschließend schick­te er die Flüchtlinge — mit oder ohne „Passeur" — auf pyrennäischen Berg­pfaden illegal über die spanische Grenze. Fry arbeitete mit den Briten und mit dem Marseiller „Milieu", mit ausländischen Konsulaten, deren Beamte sich teils aus Geld-, teils aus humanitären Gründen (das waren die selteneren Fälle) bei der Ausstellung von Papieren kooperativ erwiesen, und sogar mit Mitgliedern der französischen Sicherheitspolizei zusammen.

Die amerikanischen Notvisen wurden 1940/41 nur bekannten Hitlergeg­nern oder Personen, die aus einem anderen Grund von den Nationalsoziali­sten besonders gesucht wurden, ausgestellt. Die Gefahr sollte sich jedoch auch in der französischen Südzone bald auf die jüdischen Emigranten im Allgemeinen (d.h. die Mehrzahl der Hitlerflüchtlinge) ausdehnen.

Die Vichyregierung hatte in der Tat von Anfang an einen antisemitischen Kurs eingeschlagen. Am 3. Oktober 1940 wurde im sogenannten „Statut des Juifs" zum ersten Mal der Begriff „Jude" nach nationalsozialistischem Beispiel rassisch definiert. Jude war demnach, „wer zwei jüdische Groß­eltern hat" und jüdischen Glaubens war. Personen, auf die diese Definitio­nen zutraf, wurde in Zukunft die Arbeit in gewissen Funktionen des öffentlichen Dienstes, in Presse, Rundfunk und Theater verboten. Außer­dem wurde ein numerus clausus für die Ausübung freier Berufe eingeführt.

Einen Tag nach der Veröffentlichung des „Judenstatuts", am 4. Oktober 1940, trat das bereits zitierte Gesetz betreffend die Internierung von „Ausländern jüdischer Rasse" in Kraft. Am 29. März 1941 beschlossen die Vichybehörden auf Anweisung der Besatzungsmacht die Schaffung eines „Generalkommissariates für jüdische Angelegenheiten" (Commissariat Général aux Questions Juives, CGQJ), das zunächst dem Ministerpräsiden­ten, dann dem Innenministerium und ab Mai 1942 wieder dem Regierungs­chef unterstellt war. Sein Sitz war in Vichy, aber seine Zweigstelle in Paris war mit Abstand die aktivste. Den Vorsitz führten von 1941 bis 1944 drei verschiedene Kommissare: Vom 29.3.1941 bis 6.5.1942 war Xavier Vallat Kommissar für jüdische Angelegenheiten. Sein Nachfolger, vom 6.5.1942 bis 26.2.1944, war Darquier de Pellepoix, und Paty de Clam hatte das Amt während der vier Monate bis Mai 1944 inne. Nach seinem Ausscheiden und bis zum Zusammenbruch des Vichyregimes wurde das Kommissariat von seinem Generalsekretär Pierre Antignac geleitet.

Das CGQJ hatte vier verschiedene Aufgabenbereiche: 1. die allmähliche Eliminierung der Juden aus den verschiedenen Berufszweigen, 2. die wirt­schaftliche „Arianisierung" Frankreichs, 3. die aktive Zusammenarbeit mit der Polizei bei Festnahmen und später bei Deportationen von Juden, 4. die Verbreitung antisemitischer Propaganda.

Das Kommissariat hatte im Oktober 1940 mehr als 1000 Beamte. Sein Budget belief sich für 1943 auf 47 404 700 Francs und für 1944 auf 50 169 000 Francs. Davon entfielen 36 454 000 Francs auf Gehälter.

Die nationalsozialistischen Behörden, die ihre Judenpolitik in Frankreich nach dem im Reich erprobten und bewährten Muster organisieren wollten, forderten anschließend die Schaffung eines „Judenrates". Es handelte sich dabei um ein Zentralorgan, das die gesamte Judenheit eines Landes den Be­hörden gegenüber vertrat. In einer Zeit der Verfolgung und späteren Ver­nichtung des gesamten europäischen Judentums war jede Art von offiziel­lem Kontakt natürlich problematisch. Über das Problem der „Judenräte" ist im Zusammenhang mit Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem — über die Unscheinbarkeit des BOSEn" viel geschrieben worden. Es handel­te sich um ein moralisches Dilemma, das die Verantwortlichen vor die fürchterlichste Wahl stellte, die man sich vorstellen kann. Ein summarisches Urteil darüber abzugeben, steht uns nicht zu. Wir gehen hier nur insoweit darauf ein, als es zum Verständnis der französischen Parallelorganisation der Reichsvereinigung unerlässlich ist.

Am 29. November 1941 wurde durch ein Dekret der Vichyregierung die Gründung der „Allgemeinen Vereinigung der Israeliten in Frankreich" (Union Generale des Israélites de France, UGIF) beschlossen. Die UGIF hatte eine Abteilung (Generalvertretung) in der Nord- und eine in der Süd­zone. Zwischen beiden bestanden sowohl in Bezug auf Organisation wie auch die ideologische Ausrichtung große Unterschiede. Während die UGIF-Führer der freien Zone zionistisch waren und in guten Beziehungen zu den Vertretern der ausländischen Juden standen, charakterisierten sich die Füh­rer der besetzten Zone durch einen gewissen „französischen Elitarismus". Da sie das Judentum als eine Religion und nicht als eine Volkszugehörig­keit betrachteten, waren sie dezidiert antizionistisch eingestellt. Ihre Kolle­gen in der Südzone behaupteten von ihnen, daß sie „xenophob und sogar irgendwie antisemitisch" seien.

In keiner der beiden Zonen, besonders nicht in der Südzone, wurde die UGIF zu einem Judenrat im nationalsozialistischen Sinne. Die Rolle, die sie während der Besatzungszeit spielte, war trotz allem außerordentlich delikat, und bei ihrer Auflösung 1944 wurden ihre Führer, über deren per­sönliche Integrität heute im Allgemeinen in jüdischen Kreisen kein Zweifel mehr besteht, beschuldigt, Kollaborateure gewesen zu sein.

Die UGIF-Sektion der besetzten Zone war zentralistisch organisiert. Sie ist als die direkte Fortsetzung des „Comité de Coordination" anzusehen, das bereits seit Januar 1941 existierte. Zwei eigens zu diesem Zweck aus Wien herbeigeholte Juden, Israel Israelowicz und Wilhelm Israel Biberstein, hat­ten es auf Befehl von SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker nach dem Modell der polnischen Judenräte gegründet.

In der unbesetzten Zone war die Lage vollständig anders. Nach dem fran­zösischen Zusammenbruch hatten sich zahlreiche jüdische Wohlfahrtskomi­tees, die vorher ihren Sitz in Paris gehabt hatten, in der Südzone niederge­lassen. Auf einer von südfranzösischen Rabbinern einberufenen Konferenz wurde am 30. und 31. Oktober 1940 in Marseille die Schaffung eines Zen­tralorgans beschlossen, das das Wohlfahrts- und Rettungswerk der verschie­denen Hilfsorganisationen koordinieren sollte. Es erhielt den Namen „Zen­trale Hilfskommission der Jüdischen Organisationen" (CCOJA) und wurde in folgende Sektionen eingeteilt: a) Finanzaktionskomitee zur Beschaffung von Geldern, b) ständiges Verwaltungskomitee, c) juristischer Beratungsdienst, d) Lagerkommission, e) Untersuchungskommission, f) Komitee für besondere Verwaltungsangelegenheiten, g) Komitee für Berufsumschulung (-ausbildung), h) Komitee für soziale und medizinische Hilfe, i) Komitee für Jugendaktivitäten, j) Hilfskomitee für Kriegsgefangene.

Als auf Anweisung der Besatzungsmacht die Gründung der UGIF auch für die Südzone beschlossen wurde (Laval hatte erklärt, er werde in Zukunft nur noch mit der Zentralorganisation verhandeln und keinen Vertreter autonomer jüdischer Organisationen mehr empfangen), konnte diese sich auf die bereits bestehenden Strukturen des CCOJA stützen. Die UGIF-Führer der Südzone, die großenteils schon in irgendeiner Form beim CCOJA vertreten waren, übernahmen unverändert dessen Methoden und Arbeitsweisen. Sie ließen den Organisationen, aus denen die Union bestand, vollständige Freiheit, so daß die UGIF in der freien Zone im Grunde eher eine lose Föderation der bereits bestehenden jüdischen Hilfsorganisationen war, die ihre Tätigkeit unter den gleichen Bedingungen fortsetzten wie vor deren Bestehen. So organisierten die EIF (Eclaireurs Israélites de France, jüdische Pfadfinder) unter den Augen der „Sûrete Nationale" und später der Gestapo ein Kinderrettungswerk unter dem juristischen Deckmantel der UGIF-Jugendsektion. CAR, HICEM, ORT, OSE und anderen wurde ebenfalls freie Hand gelassen, neben den legalen auch illegale Methoden an­zuwenden, um zum Ziel zu gelangen. Das war vor allen Dingen nach der Vollbesetzung im Jahre 1942 unvermeidlich, wenn es galt, gefährdete Emi­granten zu verstecken oder aus dem Land hinauszubringen. In Périgueux wurden im ORT-Umschulungszentrum Waffen für die Widerstandskämpfer produziert, und J. Bramson war ein aktives Mitglied sowohl der ORT als auch des „Maquis" in der Dordogne. Trotz dieser Untergrundsaktivitäten, auf die später fast alle jüdischen Orga­nisationen zurückgriffen, kann man im französischen Judentum zunächst noch ein stark legalistisches Denken beobachten. Der Schock, daß die anti­semitischen Maßnahmen nicht nur die ausländischen Juden, sondern auch sie selbst betrafen, daß „so etwas auch in Frankreich vorkommen" konnte, war ungeheuer. Der Übergang zur illegalen Arbeit der von der UGIF patronierten Hilfskomitees ist zum großen Teil diesem Schock zu verdanken. Doch so schnell ändert sich eine in jahrhundertlanger Geschichte gebildete Mentalität nicht, und, wie Breitscheid und Hilferding in ihrer Weise, zeigten die französischen Juden — ob sie aktiv am Rettungswerk beteiligt waren oder zu den Schützlingen der Hilfskomitees gehörten — oft einen völligen Mangel an Anpassungsfähigkeit an die neuen Gegebenheiten.

So hatte die OSE Mitte 1943, als die Deportationen längst begonnen hatten, noch 13 legale Kinderheime in der Südzone. Es muss jedoch gesagt werden, daß gerade diese Organisation ihr Bestes tat, um die Kinder zu verstecken. Bezeichnender für die Haltung der französischen Juden ist insofern die Er­klärung, die der UGIF-Vorsitzende der Südzone, Raymond Geissmann, Ende Juli 1944 (!), d.h. gerade einen Monat vor der Befreiung abgab: „Seit Anfang des Jahres haben 1200 Personen die nötigen Mittel erhalten, um sich zu verstecken, was eine Ausgabe von etwa 200 000 Francs bedeutet. Mit Bedauern müssen wir feststellen, daß die Mehrzahl der Betroffenen sich dieser Mittel nicht bedient, mit denen wir sie, unter größten Gefahren für unsere jungen Freunde und Freundinnen ausgestattet haben. Als die Deutschen in unserem Département mit der Judenjagd begonnen haben, haben wir sofort allen befohlen, sich zu zerstreuen . . . Wir haben sie zu diesem Zweck mit einer Summe von 160 000 Francs unterstützt. Allein im Juni 1944 haben wir 2400 Francs ausgegeben. Leider müssen wir feststel­len, daß auch hier die Anzahl der Personen unzureichend ist, die unserem Rat gefolgt ist." Insgesamt weigerten sich 80% der UGIF-Schützlinge, un­terzutauchen.

Dies war umso bedenklicher, als Personen, die sich nach 1940 an Hilfskomitees wendeten, sich dadurch, zu der bereits bestehenden, noch in zu­sätzliche Gefahr begaben. Mit der durch die Gründung der UGIF erfolgten Zentralisierung der jüdischen Wohlfahrt war es den Besatzungsbehörden leicht geworden, deren Arbeit zu kontrollieren. Die meisten Dokumente der Komitees (es handelte sich dabei gewöhnlich um die Namenslisten mit den Adressen der Schützlinge) waren dem Generalsekretariat für jüdische Angelegenheiten zugänglich. Es ist mehrere Male vorgekommen, daß solche Listen bei Bürodurchsuchungen beschlagnahmt wurden.

Einen besonderen Aspekt des Flüchtlingshilfswerks während der Besatzungszeit bildete die Rettung von Kindern. Die wichtigste Arbeit in dieser Hinsicht leistete die OSE (Oeuvres de Secours aux Enfants). Eigenen Stati­stiken zufolge hatte sie 1941 die Verantwortung für 2 825 Kinder in sieben Departements der unbesetzten Zone übernommen. Die meisten dieser Kin­der hatten jeden Kontakt mit ihren Eltern verloren, von denen viele depor­tiert waren und andere verschollen. Die Hauptaktivität der OSE bestand darin, die Kinder aus den Lagern, besonders aus Rivesaltes, zu holen und sie entweder privat oder in Heimen unterzubringen. In den Jahren 1940/41 gelang es der Organisation, 470 von ihnen aus Rivesaltes zu befreien.

Die Lage der Kinder war oft außerordentlich schlimm. Von den Eltern früh getrennt und durch teilweise jahrelangen Lageraufenthalt dazu erzogen, zu­nächst einmal an sich selbst zu denken und allem, was an sie herantrat, misstrauisch gegenüberzustehen, gelang es ihnen oft nicht, sich in das Heim­leben einzufügen. Als 1942/43 die Razzien und Deportationen einsetzten, mussten sie sich bereithalten, jederzeit zu fliehen, und sie verbrachten oft lange Nächte im Wald. Waren sie privat untergebracht, fanden sie nicht im­mer das erhoffte Verständnis bei der Aufnahmefamilie. Fast alle Kinder machten eine Identitätskrise durch: Außer der Tatsache, daß sie sich in einem fremden Land befanden, allein, in Gefahr und mit Ungewisser Zu­kunft, kamen sie oft aus einer jüdischen in eine streng katholische Umge­bung. Die Reaktionen auf diesen Schock waren unterschiedlich. Manche versuchten, ihrer Vergangenheit treu zu bleiben und ihre Identität zu be­wahren, und sie sonderten sich von ihren Kameraden ab. Andere taten alles, um sich so schnell wie möglich den Gewohnheiten der neuen Umge­bung anzupassen. Die fürchterliche Einsamkeit dieser Kinder geht aus Zeugnissen ihrer ehemaligen Pflegerinnen hervor, denen es trotz aufopferndster Arbeit nicht gelang, wirklich zu helfen.

Als die Deutschen nach der Vollbesetzung Frankreichs im November 1942 begannen, die OSE-Heime strikt zu überwachen, suchten die Mitarbeiter dieser Organisation nach einer Möglichkeit, die Kinder außer Gefahr zu bringen. Anfang November 1943, als die Nationalsozialisten auch schon Kinder deportierten, ließ die OSE in der ehemaligen unbesetzten Zone alle legale Arbeit fallen. Laval, dessen Gewissen nur dann schlug, wenn es sich um französische Juden handelte (und auch das, wie wir sehen werden, nur bis zu einem gewissen Maße) wollte so viele Emigrantenkinder wie möglich „zur Verfügung" haben, um die von den Deutschen geforderten Deporta­tionsquoten erfüllen zu können. Aus diesem Grund hatte die Vichyregierung auch nur 350 von den 1000 Kindern Ausreisevisen gewährt, denen die USA Notvisen ausgestellt hatten. Die gleiche Politik wurde auf alte und kranke Menschen angewandt.

Die OSE konzentrierte von nun an alle ihre Anstrengungen auf Untergrund­arbeit. Einige Präfekturen akzeptierten es, die Kinderheime zu „überneh­men". Sie änderten die Namen der Kinder und stellten ihnen Papiere aus, die ihre elsässische oder lothringische Herkunft bewiesen. Da die meisten von ihnen einen Akzent beibehalten hatten, mußte man bei der Fälschung Vorsicht walten lassen.

Anschließend fahndeten die OSE-Helfer nach Untertauchmöglichkeiten für ihre Schützlinge. Viele Klöster öffneten ihnen ihre Tore. Im Gegensatz zur offiziellen Politik des Vatikans haben die französischen Geistlichen bei­der Konfessionen viel getan, um das Schicksal der Verfolgten zu erleich­tern.

Es gab jedoch Fälle, wo die Kinder sich in keiner Weise einer nicht-jüdischen Umgebung anpassen konnten. Manche bestanden darauf, koscher zu essen und den Sabbath zu halten. Sie in Klöstern oder französischen Bauernfamilien zu verstecken, war unmöglich. Die OSE, die bereits seit langem ver­sucht hatte, zumindest die gefährdetsten unter ihren Schützlingen aus Frankreich hinauszubringen, sandte viele von ihnen auf illegale Weise über die Schweizer Grenze. Andrée Salomon hat auf diesem Gebiet Erstaun­liches geleistet. In einem Bericht an Schweizer Verbindungsmänner vom 9. Dezember 1943 schrieb die südfranzösische Vertretung der OSE: „Dies ist das Ende unserer legalen Arbeit." Ab Januar 1944 setzte die Organisation ihre wichtigsten Tätigkeiten außerhalb des Rahmens der UGIF fort, die die Verantwortung dafür nicht mehr tragen wollte. Das Kinderrettungswerk brach am 26. Ja­nuar 1944 endgültig mit der jüdischen Dachorganisation.

Die UGIF-Führer wurden später beschuldigt, den Deutschen Kinder zur Deportation ausgeliefert zu haben. Szajkowski schreibt in diesem Zusam­menhang[39]: „Eine Rechtfertigung für die Handlungsweise der UGIF-Führer gibt es bisher nicht. Wahrscheinlich glaubten sie, daß sie durch Hinter­gehung der deutschen Behörden das Bestehen der UGIF selbst in Gefahr bringen würden und damit auch die Zentren für alte und kranke Juden. Es scheint, daß die UGIF einen legalen Ausweg aus ihrem tragischen Dilemma suchte. Eltern, die in Drancy interniert waren, wurden von der UGIF auf­gefordert, offizielle Formulare zu unterzeichnen, wodurch sie die Überfüh­rung ihrer Kinder aus UGIF-Zentren zu Verwandten, Freunden und Wärte­rinnen beantragten. Dabei stellt sich jedoch folgende Frage: Warum hat der jüdische Untergrund auf die Erlaubnis der UGIF gewartet, um die Kinder zu verstecken? In Paris ist die OSE noch früher in die Illegalität gegangen als in der ehemaligen freien Zone, und offenbar sind 50 Kinder in der Pari­ser Region aus UGIF-Heimen gerettet worden."

Wie man sieht, bestand die Haupttätigkeit der Hilfsorganisationen ab 1942 darin, Schützlinge zu verstecken oder nach Emigrationsmöglichkeiten für sie zu suchen. Wir haben die Arbeit des „Emergency Rescue Committee" geschildert, das privilegierten Personen amerikanische Notvisen beschaffte. Die wichtigste Organisation für Emigrationshilfe war jedoch die HICEM, die nach der Gründung der UGIF zu deren sechster Abteilung wurde. Mit der legalen und der illegalen Hilfe von HICEM emigrierten von Frankreich zwischen Juni 1940 und März 1943 rund 24 000 Personen. Ab 1942 hatte die Organisation mehrere Wege gefunden, die Flüchtlinge illegal über die spanische Grenze zu bringen. Für Emigranten, die im spanischen Bürger­krieg auf republikanischer Seite gekämpft hatten und deswegen die Reise durch die iberische Halbinsel nicht wagen konnten, wurde eine andere Lö­sung gefunden. Einige Schiffe liefen von Marseille direkt nach Martinique aus. Dort warteten die Emigranten auf ein Einreisevisum in ein Land, wo die Möglichkeit für sie bestand, wieder legal zu werden. Die größte Schwie­rigkeit für die Flüchtlinge bestand in der Tat darin, ein Aufnahmeland zu finden. Die USA gingen während des ganzen Krieges trotz dringendster Vorhaltungen ihrer eigenen Konsulate von ihrem Quota-Prinzip in ihrer Einwanderungspolitik nicht ab, außer für einige wenige Emergency-(Not) Visen[40]. Die meisten anderen Länder schlössen für jüdische Emigranten ihre Grenzen.

Hinzu kamen Transportschwierigkeiten. Grossmann schildert die Lage fol­gendermaßen[41]: „Der einzige Ausgangshafen war zunächst Lissabon. Zwi­schen New York und Lissabon verkehrte die „American Export Line" mit vier kleinen Schiffen, die insgesamt 1200 Passagiere aufnehmen konnten; ferner die portugiesischen Schiffe „Nyassa", „Serpa Pinto" und „Guinee" mit einer Fassungskraft von 2300 Personen." Von dem spanischen Hafen Bilbao liefen zeitweise zwei Schiffe aus, die je 1600 Passagiere aufnehmen konnten, und von Lissabon und von spanischen Häfen die Schiffe „Ciudad Sevilla", „Villa Madrid", „Navemar", „Monzinho" und kleinere Fracht­schiffe. Ab Juli 1942 brachten nur noch die „Nyassa" und die „Serpa Pin­to" in großen Abständen Flüchtlinge von Lissabon in die USA und nach Kanada.

Das Rettungswerk der Hilfskomitees in Frankreich lässt sich nicht ohne die Unterstützung der katholischen und protestantischen Organisationen und vor allen Dingen der Quäker denken, die eng mit den jüdischen Komitees zusammenarbeiteten. Bereits im November 1940 schlössen sich in Südfrankreich etwa 20 Organisationen zu einem „Koordinationskomitee für Hilfe in den Lagern" zusammen. Der Vorschlag, die Arbeit aller privater Hilfskomitees in einem Zentralorganismus zu koordinieren, kam vom Vor­sitzenden des Koordinationskomitees, Dr. Donald A. Lowrie von der YMCA (Christliche Vereinigung Junger Männer).

Die Haltung der französischen Priesterschaft den Verfolgten während der Nazizeit gegenüber ist bewunderungswürdig. Sie stand in krassem Gegensatz zu der mehr als zurückhaltenden Politik des Vatikans, die offi­ziell auch von der französischen Kirche befolgt wurde. Ein Problem, das besonders dann auftauchte, wenn es sich um jüdische Kinder handelte, war jedoch, daß ihr Hilfswerk meistens von einer missionarischen Absicht be­gleitet war. Wie wir bereits berichtet haben, stürzte das die Kinder teilweise in schwere Gewissenskonflikte. Es ist ein Fall bekannt, wo mehrere Dut­zend Kinder, die getauft und in der katholischen Religion unterrichtet worden waren, dies unter allen Umständen verbergen wollten, als sie in den Lagern wieder mit ihren Eltern zusammengeführt wurden. Sie baten den Priester, ihnen die Heilige Kommunion in den Latrinen zu verabreichen, um ihren Eltern, die sie als Juden erzogen hatten, keinen Schmerz zuzu­fügen.

Das Schicksal der Emigranten in der besetzten Zone

Die nationalsozialistischen Behörden errichteten in der besetzten Zone Frankreichs unmittelbar nach dem Waffenstillstand eine besondere „Verwaltung für Jüdische Angelegenheiten“, die unabhängig von den übrigen Be­satzungsbehörden arbeitete. Das „Judenreferat“ war eine Unterabteilung des RSHA-Büros IV B4 in Berlin, von wo aus es seine Anweisungen direkt erhielt. Es war für die gesamte französische Nordzone zuständig, während die fünf Nord-Departements (Verwaltungsprovinzen) außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Militärbefehlshabers in Frankreich lagen. Der Leiter des Judenreferats stand in direkter Verbindung mit der Vichyregierung, mit dem Staatschef, dem Innenministerium und dem „Vertreter der frän­kischen Regierung in der besetzten Zone". Mit dem Generalkommissariat für jüdische Angelegenheiten (Commissariat Général des Questions Juives, CGQJ) arbeitete er eng zusammen. Obwohl diese Parallelinstitution des Judenreferats in der unbesetzten Zone offiziell „autonom" war, übte die deutsche Behörde eine so strikte Kontrolle darüber aus, daß Generalkom­missar Xavier Vallat nach einer Meinungsverschiedenheit mit dem Juden­referat durch Darquier de Pellepoix ersetzt wurde.

Dem Judenreferat stand zunächst der ehemalige Eichmann-Mitarbeiter, SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker vor, der vor seinem Aufenthalt in Frankreich Spezialist für Judenfragen in Österreich und in der Tschecho­slowakei gewesen war und sich anschließend in Griechenland, Italien, Bul­garien und Ungarn um die Organisation der „Endlösung" gekümmert hatte. Dannecker soll sich nach Kriegsende das Leben genommen haben. Sein Nachfolger war SS-Obersturmführer Heinz Röthke, der erst in der deutschen Militärverwaltung und dann in der Gestapo gearbeitet hatte. Er ist seit 1945 verschollen. Eine dritte wichtige Persönlichkeit der Besatzungs­behörde in der französischen Nordzone war der ehemalige berüchtigte Lagerleiter von Drancy, SS-Hauptsturmführer Alois Brunner. Er spielte für die Judenverfolgung eine weit über seinen ohnehin beträchtlichen Auf­gabenbereich hinausgehende Rolle.

Neben dem Judenreferat existierte innerhalb der Gestapo ein Büro für Judenfragen. Die Gestapo selbst stand in Frankreich unter der Leitung von SS-Brigadeführer Karl Oberg und seinem Stellvertreter, SS-Sturmbannfüh­rer Herbert Hagen. Das Büro für Judenfragen wurde von SS-Standartenfüh­rer Polizeioberst Helmuth Knochen und dessen Vertreter, SS-Obersturm­führer Kurt Lischka, verwaltet. Die Aufgabenbereiche des Judenreferats und des Gestapobüros überschnitten sich teilweise. Dies ist ein typisches Beispiel für die Organisation der nationalsozialistischen Bürokratie. Durch die Manie, immer neue Ämter, Posten und Titel zu schaffen, kam es häufig zu Kompetenzschwierigkeiten. Jedoch wirkte diese Rivalität sich meist nicht zum Vor-, sondern zum Nachteil der Verfolgten aus.

Im Unterschied zur unbesetzten Zone, in der die französischen Juden rela­tiv lange unbehelligt blieben, richtete sich die antisemitische Politik in der Nordzone von Anfang an gegen alle Juden. Trotzdem waren die Emigran­ten als erste bedroht: die deutschen und österreichischen Juden, weil sie sich durch die Internierungsmaßnahmen der französischen Regierung be­reits in Lagern befanden und alle Lager von den Deutschen als eine Transit­station zur Deportation betrachtet wurden, und die Ostjuden, weil sie auf der nationalsozialistischen Wertskala die tiefste Stufe einnahmen.

Die anti-jüdische Politik in Frankreich profitierte von den siebenjährigen Erfahrungen im Deutschen Reich. Sie wurde sofort nach jenem Schema organisiert, das Raul Hilberg in seinem Buch „The Destruction of the European Jews"[42] als in vier Etappen gegliedert beschrie­ben hat: Auf die Registrierung, d.h. statistische Erfassung der jüdischen Bevölkerung (registration) folgte die Enteignung, d.h. wirtschaftliche Kalt­stellung (expropriation). Anschließend wurden die Juden oder ‚Nicht-Arier’ in bestimmten Zentren - Ghettos, Lagern - zusammengefasst (concentration) und ihrem Endzweck, der Vernichtung (extermination) zugeführt. Dieses Schema erfuhr von Land zu Land leichte Veränderungen. Es kam zum Beispiel vor, daß die Konzentrierung in Ghettos der Enteignung voranging. In welcher Reihenfolge auch immer, am Ende dieser Etappen stand immer die Vernichtung.

Eine der ersten Maßnahmen, die in Frankreich getroffen wur­de und von der beide Zonen betroffen waren, galt der statistischen Erfas­sung der Juden. Mehrere Male wurde in Frankreich ein Zensus durchgeführt, den gewöhnlich die Präfekturen der Départements organisierten. Das erste Dekret für eine Zählung der jüdischen Bevölkerung wurde von den Besatzungsbehörden am 27. Dezember 1940 erlassen. Es heißt darin, daß alle Juden Frankreichs bis spätestens am 30. Oktober 1941 registriert sein müssten.

Aufgrund der Anordnung des französischen Innenministers vom 31. Januar 1947, alle „Kriegsdokumente, die eine Politik rassischer Diskriminierung widerspiegeln" zu zerstören, ist nur sehr wenig von diesem statistischen Material erhalten. Als Szajkowski 1955 eine Untersuchung über dieses Pro­blem begann, antworteten ihm sieben Präfekturen, daß in ihren Departe­ments niemals eine Volkszählung für Juden stattgefunden habe (was nach­weisbar unwahr ist); zehn weitere erklärten, daß die Listen „unauffindbar" seien und weitere fünf, daß die Archive zerstört worden seien. Nur zu einem Zensus ist das statistische Material vollständig erhalten: Er wurde im Juni 1941 in 87 der 90 Departements auf Anweisung von Generalkom­missar Xavier Vallat und des Judenreferats durchgeführt. Wie der Direktor des CAR, Gaston Kahn im in der Nachkriegszeit gegen Xavier Vallat durchgeführten Prozess angab, waren die Massenverhaftungen vom Sommer 1942 in der freien Zone nur durch diese Zählung möglich geworden.

Eine zweite Reihe von Maßnahmen hatte den Zweck, die Juden aus dem französischen Wirtschaftsleben zu eliminieren. Nach und nach wurde den Juden der Zugang zu fast allen Berufszweigen gesperrt. Da die Emigranten 1940/41 ohnehin zum größten Teil arbeitslos waren oder sich durch irgend­eine Form von Schwarzarbeit ernährten, waren nur wenige von ihnen da­von betroffen. Wir gehen deshalb nur soweit auf diese Maßnahme ein, als sie in das Gesamtbild der deutschen Judenpolitik in Frankreich gehört, die den Flüchtlingen als ersten zum Verhängnis werden sollte.

Die Eliminierung der Juden aus fast allen Berufen stellt nur einen Aspekt der „Arisierung der französischen Wirtschaft" dar, die von den National­sozialisten systematisch angestrebt wurde. Durch einen Erlass vom 26. und 28. Mai 1941 wurde die Blockierung aller jüdischen Bankkonten beschlos­sen, und am 22. Juli des gleichen Jahres wurde den Juden der Besitz von Grund und Boden untersagt. Am 14. Dezember 1941 war alles jüdische Pri­vatvermögen in jeglicher Form dem Zugang seines Besitzers gesperrt, und in Vichyfrankreich wurde durch einen Erlass vom 22. Juli 1941 eine Paral­lelmaßnahme beschlossen. Viele Emigranten verloren durch diese Dekrete das letzte, was sie noch hatten.

Ebenfalls zu den Enteignungsmaßnahmen in Frankreich gehört die Arbeit des „Einsatzstabes Rosenberg". Ein spezialisiertes Team unter der Leitung eines Barons von Bahr inspizierte und konfiszierte in den vierziger Jahren jüdische Bibliotheken und Kunstsammlungen, um sie in den wenigen noch fahrenden Zügen nach Deutschland zu schaffen. Die vom „Einsatzstab Rosenberg" beschlagnahmten Gegenstände waren für Hitlers und Görings Privatsammlungen sowie für deutsche Museen und Universitäten bestimmt. Im Zuge dieser Aktion wurde auch, als es in Deutschland durch Luftangrif­fe zu Möbelknappheit kam, bei der, als „Aktion M" bekannt gewordenen Operation, die teilweise komplette Ausstattung jüdischer Wohnungen ins Reich transportiert.

In beiden Zonen wurden schon bald nach Beginn der Besatzungszeit Poli­zeimaßnahmen beschlossen, die erstens darauf hinzielten, die Juden vom Rest der Bevölkerung abzusondern und zweitens ihre Bewegungsfreiheit so weit einzuschränken, daß eine komplette polizeiliche Überwachung mög­lich wurde. Diese Maßnahmen fanden in der besetzten Zone eine sehr strikte, in der unbesetzten eine relativ lasche Anwendung. So verhängte der Militärbefehlshaber in Frankreich, vom 7. Februar 1942 an die Ausgangs­sperre zwischen 20 Uhr und 6 Uhr über die jüdische Bevölkerung. Gleichzeitig wurde den Juden verboten, ihren Wohnsitz zu wechseln. Da die Adressen den Behörden durch den Zensus bekannt waren, kam dies einer Anweisung zur Zwangsresidenz der gesamten jüdischen Bevölkerung gleich.

Am 1. Juni 1942 wurde in der Nordzone auf Anordnung des Militärbefehlshabers das Tragen des Judensterns eingeführt. Im November waren in Paris bereits 92 600 Sterne ausgegeben worden, wobei die Lager nicht eingerech­net sind, wo das Tragen des Abzeichens ebenfalls Pflicht war.

In der Südzone wurde eine analoge Maßnahme nie befohlen. Eine Entschei­dung gleicher Art jedoch, deren Sinn es ebenfalls war, die Juden als eine besondere Kategorie von Menschen kenntlich zu machen, wurde am 11. Dezember 1942 für beide Zonen beschlossen: Ihre Personal­ausweise und Lebensmittelkarten wurden künftig mit einem „J" versehen.

Weitere Maßnahmen, die Juden zu isolieren, wurden rasch hintereinander in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 getroffen. Juden war fortan verboten, in der Pariser Metro zu fahren, einen Telefonanschluß zu haben oder eine öffentliche Zelle zu benutzen, Restaurants, Theater oder ähnliche öf­fentliche Anstalten zu besuchen und außer zwischen 15 und 16 Uhr Ein­käufe zu machen. Die Nichtbefolgung jeder dieser Anordnungen wurde mit Festnahme und anschließender Deportation bestraft. Nach 1943 wurden Juden weder in öffentlichen Krankenhäusern noch in Privatkliniken aufge­nommen. Sie wurden automatisch in die Rothschildklinik eingeliefert, die unter der Kontrolle der Nationalsozialisten stand und wo Kranke regel­mäßig zur Deportation verhaftet wurden.

Zur Überwachung der korrekten Anwendung der nationalsozialistischen Judenpolitik in Frankreich wurde bereits am 19. Oktober 1941 die Schaf­fung einer Judenpolizei (Police des Questions Juives, PQJ) in beiden Zonen beschlossen. Sie war dem Innenministerium unterstellt und hatte zur Auf­gabe, die von Juden begangenen Gesetzesverstöße aufzuspüren. Die PQJ sollte „in enger Verbindung" mit der nationalen Polizei und dem CGQJ arbeiten. Sie war aus Freiwilligen zusammengesetzt.

Die PQJ ging besonders in der besetzten Zone rasch von den ihr zugedach­ten Aufgaben zu Verfolgungen, Verhören und willkürlichen Verhaftungen über. Wegen Divergenzen mit der nationalen Polizei wurde sie am 5. Juli 1942 abgeschafft, erschien jedoch im Oktober des gleichen Jahres wieder unter dem Namen „Untersuchungs- und Kontrollabteilung" (Section d'Enquête et de Contrôle, SEC). Sie war dem CGQJ angegliedert. Für die Verfolgten brachten diese administrativen Veränderungen in der Nordzone kaum einen Unterschied mit sich, doch in der Südzone verfuhr die SEC et­was weniger willkürlich als vorher die PQJ. Von Januar 1944 bis zur Befreiung übernahm das „Generalsekretariat für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung", d.h. die Miliz, unter General Darnand, die Verant­wortung für die gesamte „anti-jüdische Politik und die Wirtschaftspolitik" in der ehemaligen Südzone. Bereits im Juli hatte Darnand die SEC offiziell zu Festnahmen (mise à la disposition) autorisiert. Die Miliz hat sich zahl­reiche Hinrichtungen von Juden zuschulden kommen lassen. Sie war für ihre sadistischen Verfolgungsmethoden bekannt wie für ihre systemati­schen Plünderungen. Mit der Überwachung der Internierungslager und später der Deportations­züge war in beiden Zonen die nationale Gendarmerie beauftragt. In der Nordzone wurde sie dabei von der dem Sicherheitsdienst unterstellten deutschen Feldgendarmerie unterstützt.

Von der Vollbesetzung bis zur Befreiung

Die Razzien

Seit der Konferenz von Wannsee am 20. Januar 1942, bei der offiziell die „Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, war für die Deutschen je­der Jude zur Deportation und anschließenden Vernichtung bestimmt. Dementsprechend war ihre Politik in den von ihnen besetzten Gebieten. So konnte es in der französischen Nordzone vorkommen, daß ein von einem französischen Gericht regulär verurteilter jüdischer Gemeinverbre­cher nach Beendigung seiner Haftstrafe direkt in ein Lager transferiert und von dort aus deportiert wurde.

Die Vichybehörden nahmen diesem Problem gegenüber eine andere Hal­tung ein. Wenn es sich bei dem Verbrecher um einen ausländischen Juden handelte, bestand eine große Wahrscheinlichkeit, daß ihm das gleiche Schicksal widerfuhr wie in der Nordzone. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er in diesem Fall in ein Lager für „Unerwünschte" einge­liefert und mit einem der nächsten Transporte über das nordfranzösische Transitlager Drancy nach Auschwitz geschickt. Im Fall jedoch, daß er ein französischer Jude war, bestand diese Gefahr für ihn praktisch nicht.

Die Judenpolitik der Vichybehörden war ausgesprochen „nationalistisch". Während sie in das Prinzip der Deportation ausländischer Juden sehr schnell eingewilligt hatten und die Ausführung dieser Maßnahme auch mit Kompetenz organisierten und überwachten, sträubten sie sich lange dage­gen, die Deportationen auch auf die französischen Juden auszudehnen. Während eines Jahres verhandelten Abetz, Oberg, Knochen, Dannecker und Röthke im Namen von Himmler mit Pétain, Laval und Bousquet über dieses Problem. Einzig der damalige Generalkommissar für jüdische Angelegenheiten, Darquier de Pellepoix, erklärte sich auf der französischen Seite mit den deutschen Forderungen einverstanden.

Am 11. November 1942 besetzten die Deutschen als Reaktion auf die Lan­dung der Alliierten in Nordafrika die französische Südzone. Von nun an war die Gestapo offiziell in ganz Frankreich vertreten. (Fry berichtet von einzelnen Beamten, die sich bereits 1940/41 in Marseille aufhielten.) Alle Lager waren unter deutscher Kontrolle. Die Vichyregierung, die wei­ter bestand, hatte eine noch geringere Entscheidungsgewalt als zuvor. Was die Ausführung der Judenpolitik („Endlösung der Judenfrage in Frank­reich") betraf, so handelten die Besatzungsbehörden künftig über ihren Kopf hinweg. Später, als Darnand Chef der Miliz wurde, fanden sie auf seiner Seite Unterstützung, und bei vielen von der Miliz durchgeführten Raz­zien wurden französische Juden ebenso festgenommen wie ausländische. Als Beispiele lassen sich die Razzien vom 17. September 1943 in Epernay, vom November 1943 in Saint-Etienne, vom 4. Januar 1944 im Tarn, vom 2. März 1944 in Lunéville und ebenfalls vom 2. März 1944 in Nancy an­führen.

Die Festnahmen wurden in beiden Zonen nach einer doppelten Methode vorgenommen. Erstens fanden jeden Tag Einzelverhaftungen von Personen statt, die gegen „das Gesetz" verstoßen hatten oder denunziert worden wa­ren. Zweitens wurden, meist gegen Morgengrauen, Razzien durchgeführt, d.h. Massenverhaftungen, die mit der Zeit die größte Anzahl der Lagerbe­völkerung stellten.

George Wellers[43] zufolge fanden die wichtigsten Razzien in der Nordzone am 14. Mai 1941, am 20. August 1941, am 12. Dezember 1941 und am 16. und 17. Juli 1942 statt, alle in der Pariser Region. Die Zahl der Fest­genommenen war von Mal zu Mal verschieden, belief sich jedoch bei den großen Razzien immer auf mehrere Tausend. So wurden im August 1941 zum Beispiel 6000 Personen verhaftet.

In der Südzone befanden sich ab Ende 1940 die meisten ausländischen Ju­den bereits in Lagern. Mit der Schaffung der Arbeitsbataillone blieben die meisten Männer unter behördlicher Kontrolle, während viele Frauen wie­der freikamen. Die ersten Razzien auf diejenigen, die sich auf freiem Fuß befanden, wurden in der unbesetzten Zone im Mai und im August 1942 organisiert. Anschließend folgten die von Marseille am 22. und am 26. Ja­nuar 1943 und ab September 1943 zahlreiche weitere in der ehemaligen italienischen Zone.

Es besteht trotzdem kein Zweifel darüber, daß die französischen Juden un­ter den Deportierten eine Minderheit bildeten. Es ist in dieser Hinsicht be­zeichnend, daß von all den zahlreichen Razzien nur eine einzige (die vom 12. Dezember 1941 in der Pariser Region) speziell gegen die französischen Juden gerichtet war.

Die Technik der Verhaftungen und Deportationen für Frankreich ist vom Judenreferat ausgearbeitet worden. Ihr Hauptautor war Dannecker. Röth­ke führte das Werk seines Vorgängers ohne Veränderungen fort, während Brunner, wie wir sehen werden, seiner Arbeit noch eine „persönliche Note“ zu geben vermochte. Die aktive Mitarbeit der Vichyregierung und der fran­zösischen Polizei war für die erfolgreiche Durchführung der nationalsoziali­stischen Judenpolitik in Frankreich unerlässlich.

Am stärksten ist zweifellos die Razzia vom 16. und 17. Juli 1942 in Paris der französischen Bevölkerung im Gedächtnis geblieben. Sowohl wegen ihres Umfangs als auch wegen der Brutalität der angewandten Methoden gehört sie zu den schlimmsten, die Frankreich gekannt hat. Zum ersten Mal in diesem Land wurden dabei auch Frauen und Kinder festgenommen. Einzelverhaftungen von Frauen waren zwar schon vorgekommen, jedoch „diskret" und ohne Aufsehen zu erregen. Die Betroffenen wurden in der ehemaligen Kaserne von Tourelles interniert. Kinder waren jedoch bisher von den Verfolgungen noch verschont geblieben.

Die Razzia war gut vorbereitet. Am Vortag wurden von der Pariser Polizei 25 334 Haftbefehle für die zwanzig Bezirke der Stadt und 2057 für die Vororte ausgestellt. Am 16. Juli nahmen die Gendarmen in den ersten Morgenstunden 13 000 Juden fest - Männer, Frauen und Kinder ab zwei Jahren. In den Polizeirevieren wurden die Familien mit Kindern von den übrigen Verhafteten getrennt und in das große Pariser Stadion, das ,,Vélodrome d'Hiver", transportiert. Die anderen wurden in das Vorstadtlager Drancy eingeliefert.

Im „Vel d'Hiv" lebten 4 000 Kinder und 2 000 Erwachsene fünf Tage lang ohne Decken und fast ohne Nahrung unter sehr bald jämmerlichen hygieni­schen Bedingungen. Die wenigen Toiletten waren in kürzester Zeit ver­stopft, und nur einige Rot-Kreuz-Schwestern kümmerten sich um die zahl­losen Kinder, die vor Aufregung krank wurden. Manchmal wurde eine gan­ze Gruppe von einem Hysterieausbruch befallen, und hunderte von Kin­dern schrieen stundenlang. Unter den Erwachsenen wurden einige verrückt, und einige versuchten, sich umzubringen.

Am Ende des fünften Tages wurden alle in Viehwagen verladen und in die Lager von Pithiviers und Beaune-la-Rolande in der Nähe von Orléans trans­portiert.

Diese Razzia, die von französischen Polizisten durchgeführt wurde, hat ganz Paris mit angesehen. Sie hatte bei der Bevölkerung Reaktionen des Abscheus und der Empörung hervorgerufen, und viele halfen den Verfolgten, sich zu verstecken oder zu entkommen. Die Operation erwies sich insofern vom Standpunkt der Polizei aus gesehen als ein Misserfolg. Statt der vorge­sehenen 28 000 wurden nur 12 884 Personen festgenommen, davon 4051 Kinder, 5802 Frauen und 3031 Männer.

Deportation und Massaker

Im Allgemeinen war die „Endlösung der Judenfrage in Europa" nach einem genau vorherbestimmten Schema organisiert, das im Westen darauf basierte, die Juden in die osteuropäischen Vernichtungszen­tren zu transportieren und dort umzubringen. Am Rande dieser geplanten Aktion kam es jedoch auch in Frankreich vereinzelt zu Massakern. Sie wur­den entweder von deutschen Truppen oder von Darnands Miliz durchge­führt. Die meisten fanden zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Ende des Hitlerregimes schon vorauszusehen war. Die nationalsozialistischen Behör­den, denen an einer reibungslosen Ausführung ihres gigantischen Vernich­tungsplanes gelegen war, untersagten in der Tat „improvisierte Massaker" strengstens.

Laut Wellers fanden die von ihrem Umfang her bedeutendsten Massaker am 2. Juli 1944 in Miremont (Haute-Garonne), am 24. Juli 1944 in Savigny-en-Septaine (bei Orléans), am 17. August 1944 in Bron (bei Lyon), in der Dordogne und in mehreren Gemeinden des Departements Ain, eben­falls im Sommer 1944, statt.

Außerdem wurden zahlreiche Juden bei deutschen Racheaktionen erschos­sen. So wurden zum Beispiel am 15. Dezember 1941 in Mont-Valérien 95 Geiseln, davon 53 Juden, im Anschluss an ein Attentat gegen Mitglieder der Besatzungsmacht hingerichtet.

Weniger spektakulärer in den Augen der Bevölkerung als Hinrichtungen und Massaker, doch von ungleich größerer Bedeutung für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa waren die Deportationen. Deportatio­nen haben in beiden Zonen Frankreichs stattgefunden und vor der Vollbesatzung begonnen. In der Südzone wurden sie von den Vichybehörden durchgeführt. Das Petain-Regime hat sich in der Tat nicht auf die ersten, von der Kundt-Kommission geforderten Auslieferungen beschränkt. Im August 1942 ordnete der französische Innenminister die Überführung der deutschen, österreichischen, tschechischen, russischen, polnischen, estnischen, litauischen und lettischen sowie der Danziger und der saarländischen Juden und ebenso die der nicht-jüdischen russischen Flüchtlinge, die nach dem 1. Januar 1936 in Frankreich eingetroffen waren, von der unbesetzten Zone in die besetzte an. Von dieser Maßnahme waren alle betroffen, die in TE-Gruppen arbeiteten, die in Zwangsresidenzen lebten und die noch auf freiem Fuße waren. Ausgenommen waren einzig Personen über 60 oder unter 2 Jahren, Schwangere, Untransportierbare, Eltern von Kin­dern unter 2 Jahren und diejenigen, die mit einem Franzosen verheiratet waren. Die Aktion sollte am 15. September abgeschlossen sein. In einer Zeitspanne von 14 Tagen wurden zwischen 10 und 12 000 Personen an die Deutschen ausgeliefert.

Nach der Vollbesetzung und besonders während des Jahres 1943 fanden regelmäßig Deportationen aus den Lagern der Südzone in die Transitlager der Nordzone statt, die alle eine Vorstation zu Auschwitz waren. Zu dieser Zeit gab es keine privilegierten Kategorien mehr. Die Häftlinge wurden oh­ne Rücksicht auf Alter und Gesundheitszustand in die Transportzüge ge­laden.

Wie wir bereits erklärt haben, hatten die Lager in der besetzten Zone von Anfang an eine grundsätzlich andere Bestimmung als die der Südzone. Sie waren nicht als Internierungs-, sondern als Transitlager gedacht. Die wich­tigsten waren Drancy in einem nördlichen Vorort von Paris, Royallieu bei Compiègne und die Lager von Pithiviers und Beaune-la-Rolande im Loiret.

Unter allen französischen Lagern nahm Drancy eine Sonderstellung ein. Es war das größte, und in den vier Jahren seines Bestehens waren dort 70 000 Häftlinge interniert. 68 000 von ihnen wurden in 65 Transporten nach Auschwitz gebracht. Das bedeutet, daß 75% der aus Frankreich deportier­ten Juden durch Drancy gekommen sind. Bei der Befreiung lebten dort noch 1467 Menschen.

Die Geschichte des Lagers von Drancy beginnt am 20. August 1941 und endet am 17. August 1944. Wellers[44] beschreibt drei Epochen, die sich so­wohl in der Organisation des Lagers als auch in Bezug auf die Zusammen­setzung seiner Insassen und der zu dieser Zeit vorherrschenden Stimmung unterscheiden.

Die erste Periode reicht von der Eröffnung des Lagers bis zum 16. Juli 1942. Während dieses Jahres beherbergte das Lager nur erwachsene Män­ner in arbeitsfähigem Zustand. Die Deportationen waren selten: insgesamt vier Züge in zwölf Monaten. Theodor Dannecker, unter dessen Verantwor­tung Drancy damals stand, arbeitete unterdessen die später angewandte Technik für die Organisation der „Endlösung" in Frankreich aus. Die Zu­stände im Lager entsprachen etwa denen der Internierungslager in Süd­frankreich. Die Häftlinge litten an Unterernährung und unter Epidemien, und viele starben aus Erschöpfung. Andere wieder verfugten über Geld und konnten sich durch Bestechungen und Schwarzmarkt ein nahezu normales Leben leisten. Selbstmordfälle waren in diesem ersten Jahr relativ selten.

Als zweite Periode nennt Wellers den Zeitabschnitt vom 12. Juli 1942 bis zum 2. Juli 1943. Lagerleiter war zu dieser Zeit der diskrete, etwas un­scheinbare SS-Obersturmführer Heinz Röthke, der im Gegensatz zu seinem unberechenbaren, cholerischen Vorgänger keinen persönlichen Terror aus­übte. In seiner Arbeit erwies er sich jedoch als ungemein tüchtig. Unter sei­ner Leitung gingen 40 Transportzüge, d.h. mehr als drei pro Monat, mit 40 000 Personen nach Auschwitz ab. Mitte 1942 tauchten zum ersten Mal Frauen und Kinder im Lager auf, die von nun an ständig zu dessen Bewoh­nern zählten. Das Leben in Drancy während dieses Jahres war von der Angst vor der Deportation beherrscht, die in einem sehr gespannten, teil­weise wahnwitzigen psychischen Klima stattfanden. Keiner kannte den Be­stimmungsort, dem die Kinder den Spitznamen „Pitchipoi" gegeben hat­ten, und niemand wusste genau, was sie dort erwartete. Manche glaubten bis zuletzt an die Verschickung in eine Art riesiges jüdisches Ghetto in Osteuropa, wo sie gewiss zu arbeiten hätten, jedoch in Ruhe würden leben können. Andere waren sich des sicheren Tod gewiss. Zu dieser Zeit verübten in Drancy täglich Menschen Selbstmord, indem sie sich aus einer der höheren Etagen der Steinbaracken auf den Betonboden stürzten.

Die dritte Periode schließlich geht vom 2. Juli 1943 bis zum 17. August 1944, an dem das Lager von Drancy zu existieren aufhört. Sie ist durch eine grundlegende Veränderung in der Verwaltungsstruktur des Lagers charakterisiert, das von nun an nach dem klassischen Modell der nationalsozialistischen KZ organisiert ist. Die französischen Wächter wurden durch eine SS-Truppe unter SS-Hauptsturmführer Alois Brunner ersetzt, und die Häftlinge wurden so viel wie möglich zu Verwaltungsaufgaben herangezo­gen. Auf diese Weise entstand eine Hierarchie unter den Lagerinsassen, die neben den nunmehr täglich angewandten Brutalitäten zur Demoralisierung beitrug. Schurkerei, Zynismus und Betrug waren an der Tagesordnung. Eines der empörendsten Beispiele für diese Politik ist die Schaffung eines „Missionsbüros", die sechs Tage nach Brunners Ankunft beschlossen wur­de. Wellers, der zu jener Zeit in Drancy interniert war, beschreibt diese Neuerung folgendermaßen: „Es handelte sich darum, eine gewisse Anzahl von Personen auszuwählen, die nahe Verwandte im Lager hatten. Sie wur­den mit der Ausführung von Brunners Missionen betraut. Diese Missionen bestanden in der Hauptsache aus Verhaftungen noch freier Verwandter von Häftlingen im Hinblick auf eine ‚Familienzusammenführung’ vor der Deportation. Die Namen dieser Personen, die festgenommen und sofort nach Drancy gebracht werden sollten, wurden dem Beauftragten von Brun­ner selbst angegeben." Die Rekrutierung solcher „Missionare", wie sie im Lager ironisch genannt wurden, war im Allgemeinen sehr einfach: Für die ‚Familienzusammenführung’, die übrigens auch in der Südzone praktiziert wurde, wurden allein zwischen dem 1. und dem 29. August 1943 22 Missi­onare von Drancy nach Paris geschickt. Es gelang ihnen, 76 Personen zu verhaften.

Während Brunner Drancy leitete, gingen insgesamt 21 Transporte nach Osten ab. Dies war zu einer Zeit, als die Eisenbahnen in ganz Europa knapp wurden, eine Zahl, die für Brunners außergewöhnlichen Eifer in Fragen der Judenvernichtung zeugt. Der letzte Zug nach Auschwitz verließ Drancy am 31. Juli 1944 mit 1300 Personen.

Über die genaue Anzahl der aus Frankreich Deportierten bestehen nach wie vor Zweifel. Laut Wellers haben 1942 insgesamt 43 Transporte die La­ger Drancy, Pithiviers, Beaune-la-Rolande, Compiègne und Angers verlas­sen. Damit wurden 42 685 Personen nach Auschwitz geschafft. Für 1943 gibt er 22 860 Deportierte aus Drancy und den Ost-Departements an. Der Bestimmungsort war abermals Auschwitz, für einige die Insel d'Aurigny (es handelte sich um die Ehepartner von „Ariern") und vielleicht Sobibor. 1944 fanden etwa 20 Transporte von Drancy, Montluc, Toulouse-Lyon und den fünf Nord-Départements aus statt. Zwischen 19 600 und 20 100 Personen wurden deportiert. Als Gesamtziffer führt Wellers um 86 500 De­portationen an. Er zählt dabei jedoch nur die Juden, die im Rahmen der „Endlösung" ums Leben kamen, d.h. weder Juden noch Nicht-Juden, die wegen ihrer politischen Anschauungen oder Tätigkeiten oder wegen eines Widerstandsaktes umgebracht wurden. Diese Kategorie umfasst noch meh­rere Tausend Personen. Im Allgemeinen wird angenommen, daß während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich 120 000 Menschen den Depor­tationen und Massakern zum Opfer gefallen sind. Grossmann gibt die Zahl der Opfer sogar mit 200 000 an. Von den Deportierten kamen mehr als 96% in den Vernichtungslagern um.

Etwa ein Drittel der 350 000 Personen starken jüdischen Bevölkerung Frankreichs ist durch die Hitlersche Politik der „Endlösung" vernichtet worden. Der Prozentsatz der ausländischen Juden unter den Opfern ist da­bei erheblich größer als der der französischen. Wie viele deutsche und öster­reichische Emigranten sich unter ihnen befanden, ist nicht festzustellen.

Für die Nationalsozialisten war dies im Vergleich mit anderen europäischen Ländern, wo teilweise zwischen 70 und 90 Prozent der jüdischen Bevölke­rung umgebracht werden konnte, ein schlechtes Ergebnis. Wenn in Frank­reich verhältnismäßig viele Juden gerettet werden konnten, so ist dies zum guten Teil der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zu verdanken, die oft im Gegensatz zur Komplizenhaltung der Vichybehörden stand. Gerade auf dein Lande haben sich Tausende von Menschen bereit gefunden, unter Gefährdung ihres eigenen Lebens die Verfolgten zu verstecken. Ohne ihre aktive Hilfe und ohne die stille Sabotagearbeit weiter Bevölkerungskreise wäre die Zahl der Opfer in Frankreich ungleich größer gewesen.

Als zweite wichtige Erklärung für den relativen „Misserfolg" bei der Durchführung der „Endlösung" jenseits des Rheins muss die Knappheit der Eisenbahnwagen nach dem deutschen Angriff auf Russland genannt werden, weswegen 1943 weniger Deportationen stattfinden konnten als vorgesehen.

Die italienische Besatzung

Die kurze Zeit der italienischen Besatzung in Frankreich bildet in der Ge­schichte der Hitlerflüchtlinge in jeder Hinsicht ein Sonderphänomen. Durch die Haltung der italienischen Behörden, die ihrem Volk zur Ehre gereicht, unterscheiden sich ihre Lebensbedingungen von denen der Emigranten im restlichen Teil Frankreichs. Sie beweist, wie wenig sich letztlich die heute so häufig als Synonyme ge­brauchten Begriffe „Faschismus" und „Nationalsozialismus" in wesentli­chen Fragen deckten. Viele Flüchtlinge, denen es gelungen war, sich in den von den Italienern besetzten Gebieten niederzulassen, glaubten, sich auf diese Weise retten zu können. Umso größer war ihre Verzweiflung, als sie bei dem Rückzug der Italiener 1943 in die Hände der Nationalsozialisten fielen.

Die französische Riviera war ab 1940 zum größten jüdischen Zentrum Frankreichs geworden. Schon vor der deutschen Westoffensive hatten sich zahlreiche Hitlerflüchtlinge wegen der billigen Lebensverhältnisse dort nie­dergelassen und allmählich eine kleine Kolonie gebildet, die immer mehr von ihnen anzog. Ihre Lage war zunächst außerordentlich prekär, da die meisten von ihnen Juden waren und der Präfekt des Départements Alpes-Maritimes, Marcel Ribyère, ein notorischer Antisemit war, der diese Ansiedlung um jeden Preis verhindern wollte. Ribyère stand in besten Bezie­hungen zu faschistischen Organisationen wie die „Französische Legion", die ihren Sitz in Nizza hatte. Er ließ alle Juden, die nicht nachweislich für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnten, ausweisen.

Als Reaktion auf diese Politik gründeten ostjüdische Emigranten 1940 ein Komitee, das bedürftigen Neuankömmlingen bei der Beschaffung einer Aufenthaltserlaubnis und einer Unterkunft behilflich war. Das Komitee lieh sich relativ bedeutende Geldsummen aus, die der Flüchtling dann bei der Beantragung einer „carte d'identité" auf der Präfektur vorwies. Hatte er sie erhalten, wanderte das Geld in die Hand des nächsten Emigranten. Dies war in den Vorkriegsjahren in Frankreich eine übliche Methode, um die von den Behörden gestellten Aufenthaltsbedingungen zu erfüllen. Der Sitz des Wohlfahrtskomitees, in dem sich auch ein Kulturzentrum und eine Synagoge befanden, war im Hotel Roosevelt in Nizza.

Zu Beginn der vierziger Jahre wuchs die bereits seit Jahren schwärende anti­semitische Stimmung unter der Bevölkerung der südostfranzösischen Depar­tements. Die Faschisten hatten sich in der Verwaltung starke Positionen ge­schaffen, und in Nizza zogen Studentenverbände mit antisemitischen Slo­gans durch die Straßen und griffen jüdisch aussehende Passanten an. Die Behörden bereiteten den Emigranten immer größere Schwierigkeiten. Um 1941/42 befürchtete man in Flüchtlingskreisen eine neue Internierungswelle. Da kam Hilfe von unerwarteter Seite. Die italienische Besatzungs­macht begann, systematisch alle anti-jüdischen Maßnahmen zu verhindern, oder, wenn sie das nicht konnte, wenigstens zu mildern.

Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika und der Besetzung der fran­zösischen Südzone durch die Deutschen am 11. November 1942 hatten die Italiener ihre Besatzungszone in Frankreich erheblich ausgedehnt. Sie umfasste jetzt acht Departements: die Alpes-Maritimes mit Nizza als Haupt­stadt, die Hautes-Alpes, die Basses-Alpes und die Départements Var, Isère, Drôme, Savoie und Haute-Savoie. Vor dem Krieg lebten in dieser Gegend relativ wenig Juden: Man zählte zwischen 15 000 und 20 000 in den zwanziger Jahren, d.h. etwa fünf Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung Frankreichs. Im Jahr 1943 waren in den acht Departements mehr als 50 000 Juden ansässig, die meisten von ihnen Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und den Benelux-Ländern, sowie zahlreiche Ostjuden.

Diese plötzliche massive Konzentration hatte ihre Gründe. Der italienische Faschismus hatte Hitlers Rassenideologie nur zögernd und aus rein politi­schen Gründen übernommen. Alles in der Mentalität dieses zivilisierten Volkes, in dem der Humanismus bis heute eine lebendige Tradition geblie­ben ist, widersprach einer solchen Weltauffassung. Da es in Italien außer­dem nur sehr wenig Juden gab (ca. 30 000 vor dem Zweiten Weltkrieg), war der Antisemitismus in seiner virulenten Form dort nahezu verschwun­den. Geblieben waren nichts als einige Vorurteile, für deren Verbreitung die Kirche jahrhundertelang gesorgt hatte.

Es ist insofern nicht erstaunlich, daß der antisemitische Kurs, den Musso­lini nach dem Pakt mit Hitler einschlug, von den italienischen Behörden ohne besonderen Eifer verfolgt wurde. Bemerkenswert ist, daß die gesamte italienische Verwaltung und vor allen Dingen das Heer zu einer Zeit, in der Deutschland und Italien offiziell Verbündete waren, die nationalsozialisti­sche Judenpolitik offen boykottierten. Dies war nicht nur in Frankreich der Fall. Auch in Albanien und Griechenland haben die Italiener wäh­rend der Zeit ihrer Besetzung das Schicksal der Juden zu erleichtert.

Die ersten Meinungsverschiedenheiten über die Judenfrage hatten die Italie­ner in Frankreich nicht mit den Nationalsozialisten, sondern mit den Vichybehörden. Im Dezember 1942 befahl der Präfekt der Alpes-Maritimes die Ausweisung aller Juden aus den Küstengebieten in die weiter nördlich gelegenen Départements Drôme und Ardèche. Da die Ardèche sich seit der Vollbesetzung unter deutscher Kontrolle befand, hieß das, die Juden in die Hände der Gestapo zu liefern. Der Vichypräfekt hatte die Anordnung ohne vorherige Absprache mit den italienischen Besatzungsbehörden getroffen. Einige jüdische Persönlichkeiten wandten sich daraufhin an ein einflussreiches Mitglied der italienischen Kolonie, den reichen Kaufmann Angelo Donati, der von seiner Mutter her selbst jüdischer Abstammung war. Donati und der italienische Generalkonsul in Nizza, Calisse, machten die italienische Militärverwaltung auf die Angelegenheit aufmerksam. Inner­halb kürzester Zeit wurde der Ausweisungsbefehl widerrufen.

Doch die Italiener gingen noch einen Schritt weiter. Die Besatzungsbehör­den forderten nach diesem Zwischenfall die Juden auf, ein Komitee zur Verteidigung ihrer Interessen zu gründen. Der zionistische Führer Joseph Fischer, ehemaliger Vorsitzender des jüdischen Nationalfonds in Frank­reich, wurde zum Präsidenten des Komitees gewählt. Zur gleichen Zeit ver­legten die UGIF und einige ihrer Untersektionen wie OSE und ORT ihren Sitz nach Nizza. Die Italiener autorisierten das jüdische Empfangskomitee in Nizza, spezielle, mit Photos versehene Ausweise für Juden anzufertigen, und die italienische Polizei erhielt die Anweisung, Träger solcher Ausweise zu beschützen.

Obwohl die Italiener nicht alle anti-jüdischen Maßnahmen der Vichypräfekten und vor allen Dingen nicht die Ausschreitungen der französi­schen Polizei verhindern konnten, lebten die Juden in den von den Italie­nern besetzten Gebieten für einige Zeit in relativem Frieden. Im Januar 1943 wurde ihre Lage erneut kritisch. Ein Vichyminister, der zu Besuch nach Nizza gekommen war, hatte die Evakuierung aller ausländischen Ju­den aus einem Gebiet „künftiger militärischer Operationen" befohlen. Die Ausführung dieser Anordnung wurde durch den systematischen Boykott der italienischen Armee aufs äußerste hinausgezögert. Dennoch mussten die Italiener dem Druck ihrer Verbündeten in einigen Dingen nachgeben. Im März 1943 ließen sie zum Beispiel die Gründung einer Rassenpolizei in den von ihnen besetzten Departements zu.

Nun waren die Tage der italienischen Besetzung in Frankreich ohnehin schon gezählt. Im Juli 1943 brach Mussolinis Regime zusammen. Nach der Be­kanntgabe des von Badoglio unterzeichneten Waffenstillstandsabkommens mit den Alliierten vom 3. September 1943 verließen die italienischen Trup­pen aus Angst, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten, überstürzt das Land. Die Nationalsozialisten besetzten umgehend die geräumten südfranzösischen Gebiete.

Während der zwei Monate, die ihrem Rückzug vorangingen, hatten die ita­lienischen Behörden letzte verzweifelte Anstrengungen unternommen, die Juden vor dem Zugriff der Gestapo zu retten. Donati arbeitete, zusammen mit Vertretern der faschistischen Verwaltung und Führern der französisch-indischen Gemeinde, einen Plan aus, demzufolge die gesamte jüdische Be­völkerung der italienisch besetzten Zone in Lager der Alliierten in Nordafrika transportiert werden sollte. Aus Zeitmangel konnte dieser Plan vor dem italienischen Rückzug nicht mehr durchgeführt werden. Als die faschistischen Truppen mit den Evakuierungen begannen, ergriff die jüdischen Flüchtlinge eine ungeheure Panik. Einige, die gesundheitlich dazu in der Lage waren, versuchten, dem Heer über die Alpen zu folgen. Zehntausende blieben hilflos zurück.

Die Deutschen schickten sofort nach ihrer Besetzung der ex-italienischen Zone einen alten Spezialisten der „Endlösung", SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, an der Spitze eines Kommandos von Drancy nach Nizza. Er rich­tete sich in dem in ein Gefängnis umgewandeltes Hotel Excelsior ein und organisierte umgehend mehrere Razzien mit Hilfe der Miliz und der faschi­stischen Doriot-Anhänger. Überall wurden Juden festgenommen: in Syna­gogen, in Krankenhäusern, in den Sitzen der Hilfskomitees, in Hotels, auf der Straße, bei Beerdigungen. Auf diese Weise wurden in kürzester Zeit 10 bis 15 000 Personen verhaftet. Sie wurden alle nach Drancy ge­schickt und von dort nach Auschwitz deportiert.

Zu dieser Zeit begingen zahlreiche Juden Selbstmord. Viele stürzten sich aus dem Fenster, wenn die Gestapo kam oder zu kommen drohte. Viele erhängten sich, viele nahmen Gift. Dennoch konnten sich von den insge­samt 50 000, die zu dieser Zeit in den südöstlichen Départements Frank­reichs lebten, mehr als zwei Drittel retten. Einer großen Anzahl von ihnen gelang es, in die Schweiz zu fliehen, obwohl die schweizer Grenze von bei­den Seiten her strikt überwacht war. Die Berner Regierung hatte die Grenz­posten angewiesen, nur Flüchtlinge mit Kindern aufzunehmen und die an­deren wieder nach Frankreich abzuschieben. Die Befolgung dieser Anord­nung hing, wie immer in solchen Fällen, stark von den einzelnen Beamten ab. Es ist zumindest einmal vorgekommen, daß ein ganzer Kindertransport wieder zurückgeschickt wurde. Die Kinder wurden alle deportiert. Andere Beamte wieder nahmen auch Flüchtlinge ohne Kinder auf. Die Emigranten, die von den helvetischen Behörden akzeptiert wurden, kamen in Auffang­lager, wo sie bis zum Ende des Krieges interniert blieben. Viele von ihnen kehrten später nach Frankreich zurück. Wie Tartakower angibt, waren Ende 1943 bereits 10 000 Flüchtlinge über die französische Grenze in die Schweiz entkommen.

Einer noch größeren Anzahl von Juden, die in der ehemaligen italienischen Zone ansässig waren, gelang es, unterzutauchen. In dieser letzten Zeit der deutschen Besatzung war der französische Widerstand bereits gut organi­siert und von der Bevölkerung aktiv unterstützt. Der „Maquis" half den Verfolgten in der Beschaffung falscher Papiere und machte Verstecke für sie ausfindig. Viele junge Emigranten schlossen sich in diesem Jahr der Widerstandsbewegung an.

Die Flüchtlinge hingegen, die beschlossen hatten, die italienischen Truppen bei ihrem Rückzug zu folgen, erlitten fast alle ein tragisches Schicksal. Bei der Besetzung Norditaliens durch die Deutschen fielen die meisten von ihnen in die Hände der Gestapo und wurden deportiert.


EPILOG

Die Befreiung und die unmittelbare Nachkriegszeit

Am 6. Juni 1944 landeten die alliierten Truppen in Nordfrankreich, die Amerikaner auf der Halbinsel Cotentin, die Engländer in der Normandie. Die deutschen Truppen mussten kurz darauf den Rückzug antreten: am 26. Juni räumten sie Cherbourg, am 9. Juli Caen, am 18. Juli Saint-Malô. Nach der Landung der Alliierten an der französischen Mittelmeerküste am 15. August war das Ende der deutschen Besatzungszeit nur noch eine Fra­ge von Wochen. Am 24. August fanden der Aufstand und die Übergabe von Paris statt. General de Gaulle zog unter Triumph mit seinen Truppen in der französischen Hauptstadt ein. Gegen Mitte September war das ganze Land befreit.

Unter den Franzosen brach zunächst ein ungeheurer Jubel los. Dann herrschten für eine kurze Zeit im ganzen Land Unordnung und Verwirrung. Die Widerstandskämpfer rechneten mit den ehemaligen Kollaborateuren ab. Es kam dabei häufig zu Ausschreitungen, und mancher profitierte in diesen Wochen vom Chaos und nutzte sie zu persönlichen Racheakten aus. Dann nahm das Leben allmählich wieder einen normalen Gang an.

Für die meisten Flüchtlinge, die den Krieg überlebt hatten, brachte die Be­freiung jedoch nicht die erhoffte durchschlagende Veränderung ihrer Le­bensbedingungen. Viele lebten weiter unter falschem Namen, aus Gewohn­heit und weil ihre Zukunft ebenso ungewiss war wie zuvor. Andere, traumatisiert, versuchten, mit ihrer Vergangenheit zu brechen und beantragten Namensänderungen. Am 10. Mai 1945 hieß es im Mitteilungsblatt der jüdi­schen Organisation CRIF: „Das Journal Officiel (Amtsblatt) ist seit Mona­ten mit Namensänderungen von Israeliten angefüllt."

Diese Reaktionen erklären sich sowohl aus der psychischen als auch aus der materiellen Lage der Emigranten. Nach der großen Erleichterung der Befreiung mussten sie einige Monate später feststellen, daß sich ihre Lebens­bedingungen nicht wesentlich verbessert hatten. Zahlreiche Juden lebten weiterhin in Internierungslagern, weil sie sonst keine Heimstätte mehr hat­ten. Ein Korrespondent der „Jewish Telegraphic Agency Bulletin NY" schreibt zu diesem Thema am 16. November 1944 aus Toulouse: „Für Hunderte von Juden in den Lagern von Südfrankreich hat die Befreiung keine Veränderung ihrer Wohnverhältnisse mit sich gebracht. Sie sind frei, ja - aber sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen. So bringen sie den Win­ter im gleichen Lager zu, in dem man sie gefangen gehalten hatte. Die Mehrzahl der Lagerinsassen von Montauban und Masseube haben beschlos­sen, in ihren Baracken zu bleiben, obwohl es ihnen freisteht, sie zu verlas­sen. Ihre Wohnungen in Paris oder sonst wo in Frankreich sind verloren, ihre Möbel von den Deutschen abtransportiert worden, die Familien sind zerstreut, und es stehen zur Zeit keine Mittel zur Verfügung, die Notdürfti­gen mit mehr als Unterkunft und Nahrung zu versorgen — und das erhalten sie auch in den Lagern. Wenn man sie nach Paris bringen würde, wären sie ohne Wohnung und ohne Arbeit. Diejenigen, die einst Güter besessen ha­ben, mussten feststellen, daß die Prozesse für die Rückerstattung ihres Ver­mögens oder ihres Grundbesitzes noch nicht begonnen haben."

Ähnliche Nachrichten und Klagen kamen von Emigranten, die irgendwo auf dem Land untergetaucht waren. Die meisten besaßen überhaupt nichts mehr. In gewisser Hinsicht wurden die Auswirkungen der Doppelverfol­gung erst nach der Befreiung richtig deutlich. Bei der ersten Flucht hatten viele noch etwas Vermögen retten können, das sie darauf verwendeten, sich in Frankreich eine neue Existenz aufzubauen. Als die Nationalsoziali­sten das Land besetzten, gerieten sie nicht nur zum zweiten Mal in Gefahr, sondern sie verloren auch noch ihre letzte Habe. Das Geld wurde dazu ver­wendet, „Passeure" zu bezahlen oder „Pensionen" an die Leute, die ihnen Unterschlupf gewährten. Da die meisten jahrelang in der Illegalität gelebt hatten, waren reguläre Verdienste nicht mehr möglich gewesen. Bei Kriegs­ende standen sie vor dem Nichts, während alle anderen — die französischen Juden (die zwar ebenfalls, aber eben nur einmal, Verfolgungen erlitten hatten) inbegriffen — zu ihrem Besitz, ihrem Beruf oder zumindest ihren Beziehungen zurückkehrten. Gleichzeitig wurden die psychischen und phy­sischen Auswirkungen der Doppelverfolgung spürbar. Die Flüchtlinge hat­ten nicht mehr genug Spannkraft, abermals von Neuem zu beginnen. Viele hatten, ohne daß sie es unbedingt selber wussten, durch die traumatische Erfahrung jahrelanger Verfolgung und Gefahr, Entbehrungen und Illegali­tät Schäden davongetragen, an denen sie ihr ganzes Leben zu leiden haben würden und deren Auswirkungen oft noch bei ihren Kindern spürbar sind.[45]

Hinzu kam, daß die Emigranten bei der französischen Bevölkerung, die da­mals mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war, im Allgemeinen auf Un­verständnis für ihre Schwierigkeiten stießen. Teilweise begegneten sie ihnen sogar mit offener Feindseligkeit. Im November 1944, zweieinhalb Monate nach der Befreiung, griff eine letzte „Fünfte-Kolonne-Hysterie" um sich, und zahlreiche eben aus den Lagern entlassene deutsche und österreichi­sche Juden wurden abermals in Drancy und Noisy-le-Sec interniert, bis sie bewiesen hatten, daß sie „keine Kollaborateure, sondern Opfer des Nationalsozialismus" waren. Von den knapp dem Tode Entronnenen wurde die­se Maßnahme weit über ihre Bedeutung hinaus als bürokratische Schikane, als unnötige Kränkung und als wahrhafter Schmerz empfunden.

Ebenso wenig Einfühlungsvermögen bewiesen die französischen Behörden, als es sich darum handelte, den juristischen Status der deutschen Flüchtlin­ge zu klären. Aus den „Mitteilungen des Komitees jüdischer Flüchtlinge deutschen Ursprungs, Opfer des Nationalsozialismus" vom Januar 1946 (!) geht hervor, daß „die Polizeipräfektur von Paris bislang nicht akzeptiert hat, die deutschen Flüchtlinge als Staatenlose anzuerkennen". Sie war der Auffassung, daß diese ja nach der Änderung des Regimes in Deutschland die Staatsangehörigkeit wiedergewinnen konnten, die ihnen durch das nationalsozialistische Gesetz von 1941 entzogen worden war. Vom juristi­schen Standpunkt aus ist gegen diese Argumentation nichts einzuwenden. Daß die Juden aber, nachdem sechs Millionen der ihren von den Deutschen umgebracht worden waren, sich nicht mehr unbedingt als Deutsche fühlen konnten oder wollten, selbst wenn sie in Deutschland geboren waren, wurde von den französischen Behörden nicht bedacht.

Schlimmer noch als das Unverständnis für ihre speziellen Probleme, an dem sich die Geretteten gerade während der unmittelbaren Nachkriegszeit im­mer wieder stießen, war der starke Antisemitismus, der sich plötzlich an zahlreichen Orten in der französischen Bevölkerung bemerkbar machte. In einer Untersuchung über den Antisemitismus in Lothringen[46] schreibt Rose Goldberg 1946: „Damals haben wir auf den Mauern der befreiten Stadt mit frischer Kreide die Worte gesehen ,Tod den Juden!'."

Jean-Paul Sartre schrieb im Oktober 1944 zum Thema des ‚neuen Anti­semitismus’: „Ganz Frankreich verbrüdert sich und jubelt in den Straßen. Aber werden irgendwo die Juden erwähnt? . . . diejenigen, die in den Gas­kammern von Lublin umgekommen sind? Kein Wort über sie, keine Zeile in den Tageszeitungen. Und das nur, weil die Antisemiten nicht provoziert werden dürfen. Mehr denn je braucht Frankreich Einheit. Deshalb werden Ihnen wohlmeinende Journalisten sagen: Im eigenen Interesse der Juden ist es besser, nicht so viel über sie zu sprechen."[47]

Dieses Phänomen, das zu den unerfreulichsten Aspekten dieser an Uner­freulichkeiten reichen Epoche gezählt hat, hatte, wie wir sehen werden, vornehmlich wirtschaftliche Gründe.

Am 9. August 1944 wurde durch einen Erlass der de Gaulle-Regierung die französische Republik de jure wiederhergestellt. Gleichzeitig wurden „alle Transaktionen, die Ausdruck der Diskriminierung von Juden sind", annul­liert. Naturgemäß fielen unter diesen Erlass alle Beschlagnahmungen jüdi­schen Besitzes. Wenn damit das Prinzip der Rückerstattung von konfiszier­ten Gütern anerkannt war, so blieben die Methoden, nach denen diese er­folgen sollte, zu definieren. Dies erwies sich als ein langwieriger und schwieriger Prozess, bei dem zahlreiche Ungerechtigkeiten vorkamen.

Es gab in Frankreich mächtige Interessengruppen, die gegen die Rückerstat­tung des jüdischen Besitzes kämpften. Es handelte sich dabei vornehmlich um die Bewohner ehemaliger jüdischer Wohnungen, die sich gleich nach Bekanntgabe des Erlasses vom August 1944 zu Organisationen zusammen­geschlossen hatten. Diese Organisationen hatten zeitweise über 40 000 Mit­glieder. Allein 12 von ihnen werden von Szajkowski namentlich aufgeführt. Sie trieben eine aktive Propaganda gegen die Rückerstattung, die von den vulgärsten antisemitischen Slogans durchsetzt war. Einige dieser Organisa­tionen wurden deshalb von der Regierung aufgelöst, nur um unter neuem Namen sofort wieder zu erstehen. Ihre Mitglieder stammten meist aus kleinbürgerlichem Milieu (Angestellte, kleine Kaufleute), oder waren Arbeiter. Sie lebten zum großen Teil schon jahrelang in den Wohnungen, in die sie nicht einmal immer auf unredliche Weise gelangt waren, und fühl­ten sich in ihrem rechtmäßigen Besitz bedroht - zumal sie bei der zu jener Zeit in Frankreich herrschenden Wohnungsnot nicht ein­mal auf automatischen Ersatz hoffen konnten. Dies machte die Situation in der Tat kompliziert, und da die Regierung die Unterstützung dieser Schichten mehr brauchte als die der Emigranten, tat sie nichts, um die Rückerstattung zu beschleunigen. Der Wohnungserlass vom 14. November 1944 enthielt so viele Ausnahmen, daß dem sozialistischen Blatt „Populaire" zufolge 10 000 von insgesamt 25 000 „illegalen Mietern" in ihren Wohnungen bleiben konnten.

Als Reaktion auf diese Lage beschloss die französische jüdische Gemeinde mit Unterstützung der amerikanischen Juden, für die Verteidigung ihrer Interessen selbst zu sorgen und die Wohlfahrt in ihrem Land neu zu organi­sieren, um die jüdischen Emigranten aus ihrer wirtschaftlichen Not zu be­freien. Auf Anregung des „American Joint" schlössen sich im März 1945 CAR, „Comité de Défense" und „Fédération des Sociétés Juives de France" zum „Comité Juif d'Action Sociale et de Reconstruction", COJASOR (Jüdisches Komitee für Sozialwerk und Wiederaufbau) zusam­men. Abermals stellte der „Joint" ein Großteil des Budgets zur Verfügung. Im Jahr 1945 betreute der COJASOR 27 000 Personen, d.h. ca. 20% der jüdischen Restbevölkerung Frankreichs. Die meisten von ihnen waren Emigranten. Die Organisation besaß bald nahezu 50 regionale Büros. Sie gab in den ersten zehn Jahren mehr als drei Millionen Francs für Wohlfahrt aus.

Gleichzeitig beschlossen die deutschen Emigranten, ihre eigene Organisa­tion zu gründen. Am 21. Januar 1946 wurde das „Komitee der jüdischen Flüchtlinge deutscher Herkunft, Opfer des Nationalsozialismus" ins Leben gerufen, das sich die moralische und juristische Unterstützung der überle­benden Emigranten zum Ziel gesetzt hatte. Es arbeitete fünf Jahre lang mit gutem Erfolg. Nachdem 1952 die französische Regierung das Genfer Ab­kommen über den „Flüchtlingsstatus" unterzeichnet hatte, löste sich das Komitee auf, da damit der Hauptbereich seiner Tätigkeit wegfiel.

Die Nachfolgeorganisation des „Komitees" war die „Solidarité des Réfugiés Israélites", die 1952 neu gegründet wurde. Sie ist dem „Council of Jews from Germany" in London angegliedert und hat sich vor allen Dingen in Wohnungsproblemen und Sozialarbeit spezialisiert. In Limours, südlich von Paris, hat die Organisation in einem ehemaligen Schloss ein Wohnheim für deutsche Emigranten eingerichtet.

Noch lange Jahre nach dem Krieg zählte die Wohnungsnot in der Tat zu den Hauptsorgen der Emigranten. Bei der stagnierenden Wirtschaft der dreißiger Jahre und der anschließenden Besatzungszeit war in Frankreich praktisch nichts mehr gebaut worden, und so herrschte nach Kriegsende in den Städten ein katastrophaler Wohnungsmangel. Die wenigen zur Ver­fügung stehenden Wohnungen waren teuer, und da die Emigranten im All­gemeinen über keinerlei Kapital verfügten, hausten sie oft unter den un­würdigsten Bedingungen. Als der deutsche Journalist Peter Adler 1955 nach Paris kam und durch Zufall in Emigrantenkreise geriet, war er von der dort herrschenden Armut betroffen. Die juristische Lage der ehemali­gen deutschen Flüchtlinge hatte sich zwar verbessert. Fast unmittelbar nach Kriegsende hatte die französische Regierung ihnen eine zehnjährige Aufenthaltsgenehmigung und die Arbeitserlaubnis gewährt. Dennoch fan­den die Emigranten zu einer Zeit, da sich die französische Wirtschaft nur langsam erholte, oft keine Anstellung. Viele litten noch zu Beginn der fünfziger Jahre an Hunger und an Kleidermangel.

Adler, der daraufhin eine Untersuchung über die Lage der deutschen Emi­granten in Paris begann, schrieb ein Hörspiel mit dem Titel „Die Vergessenen", das zum ersten Mal im März 1956 gesendet wurde. Das Stück erregte einiges Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit, und kurz darauf be­schlossen die drei Fraktionen des Bundestags einstimmig eine Soforthilfe von einer Million DM, die an die „Solidarite" (einziger Vertreter der deut­schen Emigranten in Frankreich) ging. Die Organisation erstand mit dieser Summe das Wohnaltersheim in Limours.

Die Integration und ihre Grenzen

Im Laufe der fünfziger Jahre verbesserte sich die materielle Lage der Emi­granten. Entscheidend hierfür war die Wiedergutmachungsgesetzgebung in Deutschland, die den meisten von ihnen erlaubte, eine neue Existenz zu gründen.

Parallel zur materiellen Konsolidierung erfolgte die soziale Integration. Zumindest den jüngeren unter den Emigranten war es mit der Zeit gelungen, eine angemessene Arbeit zu finden, und manche hatten sich mit einem Franzosen oder einer Französin verheiratet. Naturgemäß ging in solchen Fällen die Integration schneller vor sich als bei Ledi­gen oder Personen mit einem ausländischen Partner. Wer Kinder hatte, wurde dadurch später noch mehr in französische Kreise gezogen. Dennoch ist die Integration nur in den seltensten Fällen vollständig. Wie aus allen Interviews hervorgeht, die wir gemacht haben, fühlen sich Viele selbst nach 40 Jahren in Frankreich immer noch als Emigranten und nicht als Franzo­sen — auch nicht wenn sie naturalisiert sind, was bei den meisten von ihnen der Fall ist. Bei den Älteren ist dies nur natürlich, zumal fast alle im Fran­zösischen einen Akzent haben, der sie als Ausländer erkenntlich macht. Doch haben wir das gleiche Phänomen auch bei den Jüngeren angetroffen. Als ein Beispiel unter vielen zitieren wir den Fall eines Arztes, der Deutsch­land mit 15 Jahren verlassen hat, einwandfreies Französisch spricht und eine große, gut gehende Praxis in Paris besitzt. Auch er antwortete auf un­sere Frage: „Fühlen Sie sich vollständig in Frankreich integriert?" mit einem klaren Nein.

Dieses Phänomen, das im Allgemeinen für Emigranten gültig ist (die erste Generation leidet in fast allen Fällen an unüberwindlichen Anpassungs­schwierigkeiten), findet noch eine zusätzliche Erklärung in der Tatsache, daß es sich bei den meisten in Frankreich verbliebenen deutschen Flücht­lingen um Juden handelt. Mit der Gründung des Staates Israel ist für sie eine neue Identifikationsmöglichkeit geschaffen worden, die ihrer besonde­ren Situation besser Rechnung trägt als die prekäre und durch den in Frankreich durchaus noch lebendigen Antisemitismus immer wieder in Frage gestellte Zugehörigkeit zum Aufnahmeland. Es versteht sich von selbst, daß diese Identitätsprobleme nichts damit zu tun haben, daß die meistens deutschen Emigranten inzwischen französische Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten geworden sind.

Anders als in der ersten Generation sieht das Problem der Integration in der zweiten Generation aus. Die Kinder der Emigranten sind in französi­sche Schulen gegangen, Französisch ist ihre Muttersprache, und nur die wenigsten können noch Deutsch. Sie sind insofern Franzosen wie alle an­deren, und die Schwierigkeiten, unter denen sie zu leiden haben, sind die aller Kinder von Eltern, die nicht vollständig in der Gesellschaft integriert sind, in der sie leben. Beziehungen, über die andere Familien verfügen, müs­sen sie sich selbst schaffen. Es lässt sich jedoch (und das ist vielleicht das einzig Spezifische für diese zweite Generation) bei den Emigrantenkindern oft eine psychische Unstabilität beobachten, die auf das von ihren Eltern erlebte Kriegstrauma zurückzuführen ist. Fälle von Depressionen bei Ju­gendlichen und sogar von Geisteskrankheiten sind häufig. In ihrer Bezie­hung zum Judentum verhalten sie sich wie die jungen französischen Juden: Sie akzeptieren diese Identität oder weisen sie zurück, je nach Charakter, Verständnis und Schicksal.




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Das Manuskript der vorliegenden Arbeit ist Ende 1976 abgeschlossen worden. Literatur, die nach dieser Zeit veröffentlicht wurde, konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden.

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[1] H. Müssener, „Exil in Schweden, Politische, und kulturelle Emigration nach 1933" Carl Hanser Verlag, 1974.

[2] Arieh Tartakower und Kurt R. Grossmann, "The Jewish Refugee", New York, 1944.

[3] Zahlen nach Jacques Vernant, „The Refugee in the Post-War World", London, 1953.

[4] Hans-Albert Walter, „Deutsche Exilliteratur", Band I, Seite 197, Hermann Luch-

terhand Verlag, Darmstadt, ab 1972.

[5] Walter, op. cit, Seite 199.

[6] Walter, op. cit., Seite 200.

[7] Werner Rosenstock, „Exodus 1933-39", Yearbook I, London, 1956.

[8] Das Nansenamt wurde 1921 von Fridtjof Nansen für die weißrussischen Emigran­ten und für die armenischen Flüchtlinge aus der Türkei geschaffen. Es verlieh einen Staatenlosenpaß, der in 50 Ländern gültig war.

[9] Walter, op. cit. Band II, Seite 47.

[10] Kurt R. Grossmann, „Emigration", Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main, 1969.

[11] Walter, op. cit., Band II, Seite 36.

[12] Walter, op. cit. Band I, Seite 217.

[13] „Die Probleme der Arbeit in der Emigration", PT, No. 365, Seite 5.

[14] Jacques Vernant, ,.The Refugee in the Post-war World", George Allen & Unwin Ltd., London 1953.

[15] Pariser Tageblatt, No. 438, Seite 1.

[16] David Weinberg, „Les juifs de Paris de 1933 à 1939", Calman-Levy, Paris, 1974.


[17] a.a.O.

[18] K.-R. Lambert: „Die moralische Anpassung der Emigration", Pariser Tageblatt, Nr. 365, Seite 5.

[19] a.a.O.

[20] D. Weinberg, a.a.O., Seite 118.

[21] Zitiert nach Weinberg, a.a.O., Seite 126.

[22] Zitiert nach Weinberg, a.a.O., Seite 126/7.

[23] Jean-Jacques Bernard : Le camp de la mort lente, Paris, Albin Michel, 1944

[24] Ursula Langkau-Alex: „Vorgeschichte und Gründung des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volkrsfront 1933-36“, phil. diss., Köln, 1975

[25] U. Langkau-Alex, a.a. O.

[26] Pariser Tageblatt Nr. 260, Seite 3.

[27] U. Langkau-Alex, a.a.O., Seite 154.

[28] U. Langkau-Alex, a.a.O., Seite 173.

[29] Babette Gross : « Willy Münzenberg », Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1967

[30] Walter, a.a.O., Band 7 .Seite 7.

[31] Kurt Grossmann schildert die Hintergründe der Affäre in seinem Buch „Emigra­tion", Europäische Verlagsanstalt, 1969, Seiten 98-104.

[32] Walter, a.a.O., Band 7, Seite 139.

[33] M. Koessler, „Enemy Alien Internment" in Political Science Quarterly, New York, März 1942.

[34] Z. Szajkowski, Analytical Franco-Jewish Gazetteer, New York, 1966, Seite 24, Note 80.

[35] A. Koestler, « The Scum of the Earth », London, 1941

[36] Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf Anny Latour: „La résistance juive en France", Paris, Stock, 1970.

[37] V. Fry, „Surrender on Demand", New York, 1945, Seite 174.

[38] a.a.O.

[39] Zosa Szajkowski: „Analytical Franco-Jewish Gazetteer 1939-1945", New York, 1966, Seite 75.

[40] Arthur Morse hat diesen Aspekt der Roosevelt'schen Politik in seinem Buch

„While Six Million Died" beschrieben.

[41] Kurt R. Grossmann: „Emigration", Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M.,1 969, Seite 212.

[42] R. Hilberg: The Destruction of the European Jews, Chicago, 1961.

[43] Georges Wellers, „L'étoile jaune à l'heure de Vichy", Fayard, 1973. Während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem war er der einzige Zeuge, der vom Gericht berufen worden war, über die Geschehnisse in Frankreich auszusagen. Wellers war in Drancy und später in Auschwitz interniert.

[44] G. Wellers, a.a.O. 110

[45] Über dieses Thema sind in Israel zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden.

[46] R. Goldberg: Mentalité et antisémitisme en Lorraine, 1946.

[47] J. P. Sartre: „Portrait of the Anti-Semite", London, 1948.

 
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