Die byzantinische Mystik - eine Annäherung

DIE Byzantinische Mystik – EINE ANNÄHERUNG

Vortrag von Corinna Coulmas

am 9. Januar 2017anlässlich der Ausstellung „Ikonosophia“

im Philosophicum Basel

 

DIE THEMATIK

Ikonosophia  Weisheit des Bildes heißt die wunderschöne Ausstellung, zu der ich hier einige Überlegungen anstellen will. Ikonosophia, das ist ein programmatischer Titel, und eine Herausforderung. Wir leben in einer Zeit der totalen Bilderüberflutung, die mit einem ausgeprägten Misstrauen allem Bildlichen gegenüber einhergeht. Nichts steht uns heutzutage ferner als die Vorstellung, dass Bilder weise sein können.

Was nicht bedeutet, dass wir ihnen keine Bedeutung zumessen. Nicht für weise werden Bilder zu unserer Zeit gehalten, aber für mächtig: der Einfluss der Medien, und auf einer anderen Ebene, neue wissenschaftliche Gebiete wie die Imagery Debate der Kognitionswissenschaft, oder das Interesse der Psychologen für das Phänomen der inneren Bilder weisen darauf hin, dass der Glaube an die Kraft des Bildes nicht erloschen ist – ganz im Gegenteil.

Diese Ambivalenz, das Misstrauen den Bilder gegenüber auf der einen, und die praktisch uneingeschränkte Hochschätzung ihrer Möglichkeiten auf der anderen Seite, ist charakteristisch für die Reflexion, die seit mehr als 2500 Jahren in der Philosophie und Kunsttheorie zu diesem Thema herrscht. Nirgendwo jedoch war die permanente Konfrontation von Bilderkritik und Bilderverehrung ausgeprägter und dramatischer als in Byzanz. Nirgendwo hat der Ikonoklasmus solche Ausmaße angenommen wie dort. Und nirgendwo war die Antwort darauf tiefgründiger – eine Antwort, die sowohl in Bildern, den Ikonen eben, als auch in Texten vornehmlich mystischen Ausdrucks gegeben wurde. Von beiden soll hier die Rede sein.

PLAN

Ich werde Ihnen in diesem Vortrage keine chronologische Darstellung bieten. In einer Einleitung, die nur Perspektiven öffnet, aber keine Fragen beantwortet, werde ich zunächst einige Charakteristika der byzantinischen Spiritualität aufzeichnen und die wichtigsten Daten nennen.

Mein erster und längster Teil ist der Einheit mystischer Inspiration jenseits der Grenzen der Religionen hinweg gewidmet. Ich untersuche dabei die doppelte Beziehung von Mystik und Körper, und Mystik und Sprache, und lasse in großem Maße die Mystiker selbst zu Wort kommen.

In einem zweiten Teil gehe ich auf die spezifischen Formen der byzantinischen Mystik ein, die im Okzident weiterhin großen Teils unbekannt bleibt.

BYZANZ

Wo beginnen, wo enden? Das Byzantinische Reich hatte einen mehr als tausendjährigen Bestand (330 – 1453). Die byzantinische Mystik reicht weit darüber hinaus. Sie beginnt in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit den griechischen Kirchenvätern, und ist für zahlreiche orthodoxe Denker heute noch am Werk. Die russischen Starzen des 19. Jh., und Denker wie Nikolaus Berdiaev oder Pawel Florensky im 20. Jh., empfinden sich als ihre direkten Erben.

Wir haben es also mit einer gewaltigen zeitlichen, geographischen und linguistischen Spannweite zu tun, die in Ägypten, Palästina und Syrien begonnen hat; sich bis nach Persien hin ausbreitete; sich dann um den Berg Athos konzentrierte; nach dem Zusammenbruch des byzantinischen Reiches in Russland und im Balkan ein neues Zentrum fand; und im Kaukasus eine stetige Bleibe hat.

Trotz dieser bedeutenden räumlichen und zeitlichen Ausmaße  besteht eine Kohärenz, die die teils widersprüchlichsten Strömungen zusammenhält. Es ist die der orthodoxen Kirche. Ihr schriftlicher Niederschlag findet sich in der Textsammlung Philocalia, ein traditionelles Werk im tiefsten Sinne des Wortes. Die ersten Texte stammen aus dem 4. Jahrhundert, die letzten aus dem 14. Jahrhundert, wo sie zum ersten Mal veröffentlich wurden. Eine Übersetzung ins Slawonische fand umgehend weite Verbreitung und beweist die Lebendigkeit der Kirchenvätertexte in der Orthodoxie.

Die Ikonen sind der zweite, bildliche Niederschlag der inneren orthodoxen Kohärenz. Sie haben eine theologische Bedeutung. Die orthodoxen Mystiker waren alle Verehrer der Ikonen, Ikonodulen, und ihre Verteidiger während der ikonoklastischen Epochen.

Bild und Wort sind also die beiden Pfeiler eines Glaubens, von denen jeder eine Facette des anderen beleuchtet. Die Ikonenmaler werden Ikonographen genannt, man schreibt eine Ikone. Oder auch Philosophen, diejenigen eben, die die Weisheit lieben und sie bildlich vermitteln: Ikonosophia.

Beide, Bild und Wort, sind in der Orthodoxie auf ein Dogma gestützt: die Inkarnation. Es geht um Fleischwerdung, um Verleiblichung. In der Mystik steht immer der Körper im Zentrum. Die Mystiker machen Ernst mit dem, was der geschundene Hiob im Moment seiner schlimmsten physischen Qualen sagt: … aus meinem Fleisch werde ich Gott schauen (Hiob 19,26). Und so besteht denn auch eine der wichtigsten Charakteristika der orthodoxen Spiritualität in der Rolle, die dem Körper bei der Annäherung an das Göttliche zugeschrieben wird. Emblematisch dafür ist das Jesusgebet, bei dem durch Atemtechnik und Wiederholung ein ekstatischer Zustand erreicht wird – ich werde darauf zurück kommen.

Die orthodoxe Mystik ist eine theologische Mystik. In ihrem Mittelpunkt steht die Trinitätslehre, die Doktrin der Dreieinigkeit, die sich langsam um alle Häresien zu diesem Thema herum kristallisiert hat und dabei die Rolle des Menschen im Weltendrama definiert. Die verlorene Gottesebenbildlichkeit – schon sind wir wieder beim Bild! – soll wieder gefunden werden, indem der Mensch sich zum wahren Bilde Gottes, nämlich Jesus Christus, empor hebt.

Wobei es sich in der Orthodoxie niemals um eine Imitatio Dei im Sinne der Nachfolge des Leidenswegs Christi als Menschen handelt. Wie es auch keine Ikonen des Menschen Christi gibt. Die byzantinische Mystik ist eine pneumatische, spirituelle Mystik.

Chronologie

Die erste wichtige Formulierung der Doktrin findet sich bei den Kirchenvätern Klemens von Alexandrien (circa 150-215) und seinem Schüler Origenes. Sie wird dann von den Kappadoziern Basileios, Gregorios von Nazianz und Gregorios von Nyssa, und von den Wüstenmönchen Antonios, Makarios und  Evagros (3.-4. Jh.) weiter entwickelt.

Die byzantinische Mystik ist zu großem Teil eine Mönchsmystik, die später von Laien übernommen und angepasst wurde. Es gibt aber auch Mischformen, wo Einsiedler und Gemeinden zusammenwirken. So zum Beispiel in Gaza mit dem Heiligen Barsanuphos, Johannes dem Propheten, und dem Heiligen Dorotheos (6. Jh).

Kontinuität

Man kann die Kontinuität der doktrinären Reflexion bis in die Gegenwart hinein verfolgen. Die wichtigsten Stationen sind im 7. Jh. Johannes Klimakos, der Heilige Maximos der Bekenner, Johannes Damascius, Verteidiger der Ikonen während des ersten Bildersturms (8. und 9. Jh.). Im 11. Jh. der Heilige Symeon der Neue Theologe, der nach dem Schisma eine pneumatische Lehre entwickelte. Im 14. Jh. dann der Heilige Gregorius Palamas, der die doktrinären Grundlagen zum Hesychasmus formuliert. Es folgen die auf dem Berg Athos verfassten Schriften und viel später, die  der russischen Denker, wie diejenigen des Heiligen Nikodemos des Hagiorits, oder des Heiligen Seraphim von Sarov.

Erbe

Viele dieser Namen werden Ihnen nur gerade bekannt sein. Es gibt im Westen eine lange Tradition der Nichtbeachtung der orthodoxen Lehre. Ich habe sie nur erwähnt, um zu sagen: Es geht hier um Erbe. Um eine lange Treue. Um Inhalte, die man teilweise vergessen hat, um Überlieferung, Weitergabe, zwangsläufigen Verlust; manchmal auch um Gewinn, der aus dem Irrtum erwachsen kann; auf jeden Fall um Verwandlung.

Verwandlung, auf Griechisch Metamorphosis, ist eines der Schlüsselworte der Mystik und, zusammen mit dem Begriff Erbe, Leitfaden dieses Vortrags.

Metamorphose

Was nun genau ist eine Metamorphose? Blicken wir kurz hinüber zu Ovid, wo Frauen zu Büschen werden und junge Männer zu Blumen. Seine Geschichten zeigen, dass es dabei stets um eine intime, radikale Umwandlung eines Wesens geht, das dabei doch das Gleiche bleibt.

Im Falle der byzantinischen Mystik bedeutet Metamorphosis die gleichzeitige Verwandlung und Festigung der Lehre durch Weitergabe des Erbes der Antike über die Araber und die jüdischen Übersetzer. Die Beziehungen der byzantinischen Mystiker gingen weit über unseren Kulturkreis hinaus, denn Mystiker erkennen einander über die Religionen hinweg.

So waren die Mönche in Kontakt mit Sufis und Kabbalisten. Über die Nestorianer, die sich bis nach China verbreitet  hatten, war ihnen auch orientalisches Gedankengut vertraut geworden. Byzanz ist durch seine mystischen Mönche zum Bindeglied zwischen Ost und West geworden.

MEIN AUSGANGSPUNKT: EINE DOPPELTE THESE

Aus dem Gesagten folgt ein doppelter Ausgangspunkt für meine Überlegungen.

a) Die Mystik ist das Herz aller Religionen, und alle Mystiker sagen das gleiche  - zumindest in dem, was sie zum Ausdruck zu bringen versuchen, nämlich das Überschreiten aller Grenzen, die unsere conditio humana ausmachen. Das wie hingegen ist kulturgebunden. Und da die Mystiker es ernst meinen mit der Tradition, auf die sie sich berufen, handelt es sich bei ihren Schriften oft um deren tiefste Kommentare. Und um die unabhängigsten.

b) Mystiker sind Gratwanderer der Religionen. Sie sind Einzelgänger, zutiefst persönlich, frei. Daher sind sie von den religiösen Institutionen stets mit Mistrauen betrachtet worden, zumindest im Christentum und im Islam, die mit Verfolgungen und Verurteilungen nicht gespart haben. Ich nenne nur Meister Eckhart; oder Hallaj; sogar heute noch hat ein Williges Jäger von der Kirche Sprachverbot erhalten. In der Ostkirche traf es Gregorios Palamas, der anschließend zum Heiligen erklärt wurde, in dem ewigen Hin- und Her von Anathem und Rehabilitation, die den Antagonismus und die gleichzeitige Komplementarität von esoterischer und exoterischer Theologie widerspiegeln.

Dazu will ich nun die Mystiker selbst sprechen lassen. Ich habe Ihnen einige Texte herausgesucht und teilweise übersetzt. Wobei byzantinische Mystiker und andere im Wechselspiel auftreten, um meine These zu erhärten: dass es nämlich gibt etwas gibt, was alle eint, und dass dieses Etwas das Entscheidende ist. Und dass es daneben auch etwas spezifisch Byzantinisches gibt, das in der Art liegt, wie dieses Etwas zum Ausdruck kommt.

 

ERSTER TEIL: MYSTIK, SPRACHE UND KÖRPER

Etymologie „Mystik“

Bevor wir zu den Texten selbst kommen, möchte ich mit einer kurzen Klarstellung beginnen, nämlich der des Begriffes „Mystik“.

Das lateinische Wort mysticus – „verborgen, geheim“ - kommt vom griechischen Verb

myô, myein

Erster Sinn: „die Augen schließen“. Warum die Augen schließen? Hier sind wir schon beim Misstrauen den Bildern gegenüber, weil sie in den Augen der Mystiker vom Eigentlichen ablenken.

Die wahre Vision

Was aber ist nun in ihren Augen das Eigentliche? Es ist das, was sie die wahre Vision nennen. Eine Vision, die nicht von den Augen geleistet wird. Seit Homer wissen wir, Seher sind blind.

Man muss das Auge schließen (myein) und dafür ein anderes Gesicht eintauschen…, das zwar jeder besitzt, aber nur wenige gebrauchen. (Plotinus, Enneaden I 6,8)

Wir haben es hier mit den Wenigen zu tun. Gregor von Nazianz hat sich in seiner Schrift Die Schau Gottes im Spiegel der Seele auf den Begriff myein gestützt, um die wahre Vision zu definieren. Diese setzt voraus, dass man statt nach außen, nach innen schaut, also eine umgekehrte Perspektive annimmt.

Dies ist ein wichtiger Punkt. Es geht in der Mystik immer um die umgekehrte Perspektive und immer um den Spiegel der Seele, bzw. des Bewusstseins. Die frappierende Ähnlichkeit nicht nur der Gedanken, sondern auch der Terminologie zu diesem Thema in den verschiedenen Spiritualitäten bestätigt meine These von der Einheit der mystischen Erfahrung über Ort und Zeit hinweg. So schreibt Shao Yong, ein chinesischer Philosoph des 11. Jahrhunderts:

Die Klarheit des Spiegels bewirkt, dass er nichts von den zehntausend Wesen verbirgt. Obwohl er nichts davon verbirgt, ist er nicht so viel wert wie die Wasserfläche, die mit ihrer Beweglichkeit die zehntausend Wesen zu einem Ganzen zu verbinden vermag. Und obwohl die Wasserfläche alle Formen zusammen schmilzt, ist sie nicht so viel wert wie der Heilige, der alle ihre Eigenschaften zu einem Ganzen verbindet. Dies verdankt er seiner Fähigkeit, die Dinge aus einer umgekehrten Perspektive zu beobachten, nämlich nicht von seinem eigenen Standpunkt aus, sondern von dem ihren. (In Anne Cheng, Histoire de la pensée chinoise, Paris 1997, p. 439)

Überall führt die umgekehrte Perspektive zur wahren Vision. Es ist eine Perspektive, die nicht unseren eigenen, zwangsläufig begrenzten Standpunkt einnimmt, sondern von dort ausgeht, wo wir ein unauslösbarer Teil des Ganzen sind. Überall finden wir den gleichen Ansatz, ob es bei Plotinus ist, der zeigt, wie man zum Einen zurückkehrt; ob es der Weg des Taoismus zum Ursprung ist; die Aufforderung des Buddhismus, die Welt der Illusion verlassen; oder im Hinduismus die Identität von Brahman und Atman. Überall geht es um die Aufhebung des Unterschiedes von Subjekt und Objekt, in der die wahre Vision besteht.

Wenn es nun aber eine wahre Vision gibt, dann gibt es auch eine falsche, nämlich die unsere. Das Hauptmerkmal unserer Conditio humana ist die Unvollständigkeit. Und so ist denn das Mangelgefühl, das damit verbunden ist, auch der Ausgangspunkt aller mystischen Suche.

Der Mangel

Um welchen Mangel handelt es sich dabei? Es geht, kurz gesagt, um den Mangel des Wichtigsten, den Mangel des Eigentlichen. Die Mystiker sind vom Gefühl besessen dass das, was abwesend ist, unendlich bedeutender ist als alles Anwesende. Das Abwesende ist nun deshalb so bedeutend, weil Abwesenheit immer die Abwesenheit Gottes beinhaltet, von der S. Weil erklärt:

Der Kontakt mit menschlichen Wesen ist uns durch das Gefühl der Gegenwart gegeben. Der Kontakt mit Gott ist uns durch das Gefühl der Abwesenheit gegeben. Aber diese Abwesenheit ist gegenwärtiger als alle Anwesenheit. (Simone Weil, Warten auf Gott)

Im Christentum sind die Mystiker diejenigen, die das doppelte Postulat des Monotheismus, nämlich die absolute Transzendenz Gottes auf der einen, und die Offenbarung auf der anderen Seite, ernst genommen haben. Alle ihre Anstrengungen sind darauf gerichtet, die unmögliche Gleichung aufgehen zu lassen. Wie ist es möglich, die Abwesenheit aufzuheben, mit der Transzendenz Kontakt aufzunehmen? Die Offenbarung zeigt, dass es einen Durchbruch gegeben hat, und die Mystiker versuchen, diesen Moment zu wiederholen.

Und deshalb eilen sie auf dem dunklen, unbegangenen, ganz und gar inneren Weg. An diesem Mangel finden sie höchste Belohnung, er ist ihre größte Freude. Und wisse, dass man darüber nichts sagen kann, außer dass man sich vom Tumult der Begriffe, der Formen und der Bilder entfernen muss, wenn man es von innen her nicht nur begreifen, sondern auch erleben will. (Hadewijch d‘Anvers, Ecrits mystiques des Béguines, Paris, 1954, p. 134)

Nach der Erfahrung des Mangels erhebt sich die große Frage, wie man ihn beseitigen kann. Der zweite Sinn des Verbs myein, „die Lippen schließen, schweigen“, gibt den Hinweis zu einem möglichen Weg. Denn: die Sprache ist das spezifisch Menschliche. Um zur wahren Vision zu gelangen, wird Stille verlangt. Auch hier haben wir es mit einer umgekehrte Perspektive zu tun: wir müssen begreifen, dass unser Reden die Stille unterbricht; dass der Kosmos mit Stille redet. Dass es eine Stille vor dem göttlichen Schöpferwort gegeben hat, wie Dunkel vor dem Licht.

Die Mystiker haben den Wert der Stille erkannt, sie sind ihr vertraut, ziehen sich lange in sie zurück. Nichts desto trotz verharren sie nicht darin. Dies ist eines der vielen Paradoxe der Mystik: sie schweigt nicht auf Dauer (sonst wüssten wir nichts von ihr) – sondern spricht an den Grenzen der Sprache.

Grenzen der Sprache

Schelling: Mystiker ist niemand durch das, was er behauptet, sondern durch die Art, wie er es behauptet.

Was der Philosoph damit meint ist, dass die Mystiker Gratwanderer auch dort, in Bezug auf die Sprache sind. Es besteht eine innere Verwandtschaft von Mystik und Poesie, die beide Aussagen wagen, die von der Rationalität her nicht zu begreifen sind, aber doch auf Wirkliches weisen.

Dies gilt wieder für alle mystischen Traditionen. So schrieb der große chinesische Philosoph Chuang-tse im 4. Jh. vor unserer Zeitrechnung:

Mit dem Netz fängt man Fische, nimm die Fische und vergiss das Netz. Mit der Falle fängt man Hasen,nimm die Hasen und vergiss die Falle. Mit Worten drückt man Gedanken aus, nimm die Gedanken und vergiss die Worte.Wo finde ich einen Menschen, der die Worte vergisst,auf dass ich mit ihm reden kann?

Neben der offensichtlichen Ironie liegt hier ein tiefer Sinne. Es geht Chuang-tse um Denken ohne Worte, um Denken in Bildern, die das Unaussprechliche auf ihre Weise aussprechen, bis es anschließend auch tatsächlich formuliert wird: die Mystik führt immer über die Sprache hinaus und wieder zu ihr zurück. Sie ist Suche nach der neuen, der unverbrauchten Sprache, ein schöpferischer Akt, der Gottes Schöpfungsakt nachahmt. Dionysius Areopagita, auf dem die gesamte Mystik der Ostkirche basiert, nennt das die  überlogische Sprechweise, mit der allein man sich Gottes Über-Un-Endlichkeit nähern kann.

Die Art von Sprache, die dazu benutzt wird, geht von der Analogie aus. Die Analogie ist Grund und Möglichkeit der Metamorphose. Sie basiert auf Korrespondenzen, Entsprechungen zwischen verschiedenen Ebenen und Reichen der Natur und des Geistes und setzt im westlichen Kulturkreis die Identität von Mikrokosmus und Makrokosmos voraus.

Analogisches und logisches Denken

Über lange Zeit hinweg, bis zur Renaissance inklusive, wurde der Analogie eine ebenso wichtige Rolle für die Erkenntnis zugeschrieben wie der Logik,  die auf dem Kausalprinzip basiert. Mit der Wissenschaftsgläubigkeit der Neuzeit, die auf dem Vertrauen an das Sichtbare, das Beweisbare beruht, nahm die Logik den ersten und bald einzig legitimen Platz im westlichen Denken ein. Sie führte zu einem mechanistischen Weltbild, das ironischerweise von der modernen Physik wieder in Frage gestellt worden ist. Die Quantenphysik, das Heisenbergsche Unschärfeprinzip entspringen dem analogisches Denken. Dies ist vielleicht auch eine der Gründe für das neue Interesses an der Mystik: sie entspricht unserer Zeit, dem modernsten Weltbild.

Die Grundlage aller Analogie im Okzident ist die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit, die allein unsere Teilhabe an allen Aspekten der Schöpfung möglich macht.

Imago Dei

Wie wir aus dem Johannesevangelium wissen, ist Christus, das wahre Gottesbild, Imago Dei, auch der Logos, womit sich unsere Überlegungen über die Sprache komplizieren, weil sie die Sprache mit der Verkörperlichung verbinden: Jesus Christus ist das inkarnierte Wort, verbum brevissimum, das seine eigene Sprache spricht und alle anderen Worte resümiert.

Die sehr reelle Schwierigkeit, Wort und Körper zusammen zu sehen, die übrigens ein ausgezeichnetes Beispiel für eine fruchtbare Analogie ist, weist nun aber den Weg zu einem spezifisch christlichen, byzantinischen Verständnis. Es ist der mystische Weg, der vom Wort weg und wieder zu ihm zurückkehrt, der vom Wort zum Fleisch führt und unser Leben auf Erden dadurch greifbar und ausdrückbar macht.

Der Vers Genesis I, 26, auf den er sich beruft, demzufolge der Mensch nach dem Bildnis Gottes, auf Griechisch kat eikona theu, geschaffen ist, ist nun ebenfalls eine Rechtfertigung der Darstellbarkeit, denn Bildnis bedeutet Darstellung. Und so ist die Lehre von der Inkarnation auch die Rechtfertigung, ist Grund und Zweck der Ikonenmalerei: der die Werke bezeichnende Terminus Eikona ist der Gleiche wie der der Gottesebenbildlichkeit.

Das Unaussprechliche findet also in der Orthodoxie durch die Inkarnation in Sprache und Körper, in Text und Bild gleichzeitig seinen Ausdruck, und die Gottesebenbildlichkeit wird damit zur Grundlage der christlichen Mystik.

Die sie betreffende Doktrin umfasst die gesamte Menschheitsgeschichte. Man kann sie in drei kurzen Sätzen zusammenfassen. Die Geschichte beginnt mit der Schöpfung des Menschen als Imago Dei. Im Sündenfall ist das Gottesbildnis von Adam zerstört worden. Vom zweiten Adam, Jesus Christus, wurde es wieder hergestellt. Aber der Mensch, und zwar jeder Mensch, Bildnis des Bildnisses Gottes Jesus Christus, hat seinen eigenen Anteil an der Wiederherstellung des Bildes. Und genau darum geht es dem Mystiker, der diese Aufgabe ernst nimmt.

Die in dieser Vorstellung enthaltene Heilsökonomie ist in der Tat „geheimnisvoll“, mysticos. Das vorher kaum gebrauchte Adjektiv mysticos ist von Origenes in Umlauf gebracht worden, um zu bedeuten, dass sich im Alten Testament „geheimnisvoll“ die Botschaft des Neuen Testaments verberge. Dies ist schon die ganze christliche Exegese in nuce.

Seit Dionysios Areopagita (um 500) deutet das Adjektiv mysticos auf eine direkte, unmittelbare Erfahrung Gottes hin.

Als Substativ erscheinen die Worte „Mystik“ oder „Mystizismus“ hingegen erst seit dem 17./18. Jh., um die Erfahrung der cognitio experimentalis de Deo, des Gotteserlebnisses, auszudrücken. Wobei das Wort „Erlebnis“ entscheidend ist.

Das Erlebnis

Denn dieses Erlebnis ist es, was allen Mystikern gemein ist. Es ist ein totales, absolutes, den ganzen Menschen erfassendes Erlebnis, das zur Erkenntnis wird dort, wo uns Erkenntnis normalerweise versagt bleibt.

Wittgenstein schreibt in seinem Tractatus logico-philosophicus:

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das mystische. (Tractatus logico-philosophicus 6.522)

Dieser Satz wie ein Konzentrat all dessen, was Mystik im allgemeinen, und byzantinische Mystik im Besonderen ist. Nach dem Sagenwollen des Unsagbaren kommt das Zeigen des Undarstellbaren. Philocalia und Ikone.

Aber kehren wir zum Erlebnis zurück und – myein – und schließen Augen und Lippen. Nur so kommt man zur Entgrenzung des Bewusstseins. Jede mystische Erfahrung findet in einem transpersonalen Bewusstseinsraum statt, wo die Grenzen von innen und außen, von mir und der Welt, von den Dingen untereinander, von Subjekt und Objekt, kurz alle Grenzen, aufgehoben werden. Dies bewirkt ein Heraustreten aus sich selbst, was die genaue Bedeutung des Wortes Ekstasis, Ekstase ist.

Die Ekstase und das Absolute

Der Inhalt der Ekstase kann mit einem Wort definiert werden: das Absolute. Die Etymologie des Wortes absolutum stammt vom Verb absolvere, „von den Fesseln befreien“. Absolutum gleich ent-bunden, uneingeschränkt und daher vollkommen. Die Ekstase ist Einheitsgefühl. Einheit von allem: es geht ums Ganze. So ist denn absolutum auch  ein anderes Wort für Gott. Was in einem seltsamen (und bedenkenswerten) Gegensatz zum Wort Religion steht, denn religio bedeutet Band!

Ab-solutum, das Ent-bundensein betrifft bei der mystischen Ektase das Selbst, das durch die Entgrenzung des Bewusstseins in eine radikale Gegenstandslosigkeit versinkt und sich damit seinem Ursprung vor aller Differenzierung nähert.

Dort ist das Absolute Einheit von Immanenz und Transzendenz, die durch die Aufhebung dessen entsteht, was uns bindet und begrenzt, nämlich Raum und Zeit. Ewigkeit schon jetzt. Wieder hilft uns Wittgenstein bei der Definition: 

Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. (6.4311)

Dreihundert Jahre vor dem Philosophen hat der Dichter Andreas Gryphius das Gleiche in seiner Weise ausgedrückt:

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen.

Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen.

Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht

so ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht.

Gott ist derjenige, der „Zeit und Ewigkeit gemacht“, womit der Kreis geschlossen ist. Dieses „Erkennen ohne Grenzen“ (W. Jäger), das das Erlebnis ausmacht, Erkennen ohne Raum und Zeit, ist allen mystischen Traditionen gemeinsam.

Religionsphänomenologisch unterscheidet man die Begegnungsmystik der abrahamitischen Religionen, die einen persönlichen Gott kennen, von der Unendlichkeitsmystik im Orient. Folgerichtig wird in der Begegnungsmystik die Identität des Mystikers bewahrt, während sie sich in der Unendlichkeitsmystik im All verliert (cf. Nirwana).

 

Freude

Die Wirkung dieses Erlebnisses ist jedoch überall die gleiche. Entgrenzung bringt Freiheit, und Freiheit bringt Freude. Und was ist Freude, wenn nicht gesteigerte Wirklichkeit? Freude ist das Gefühl von Vollkommenheit. Sie ist dilatatio cordis, Erweiterung des Herzens, das biblisch zu verstehen ist, als Denken und Wille.

Im Christentum ist das spezifisch mystische Erlebnis gekennzeichnet durch die Dialektik von Vergessen, und gleichzeitiger Festigung des Ichs. Es ist Selbstwerden durch Liebe und Selbstaufgabe. Die Dialektik des mystischen Erlebnisses zeigt sich auch am Verschwinden aller Grenzen und der gleichzeitig verstärkten Erfahrung aller Dinge und Wesen dieser Erde, die auf einer tieferen Seinsebene begriffen werden, durch Analogie, und in umgekehrter Perspektive, von innen her.

Eine wunderschöne Beschreibung dieser Freude steht in der Einleitung von Victor Ségalens Band Peintures:

Ein Malermeister zur Zeit der Song hatte die Angewohnheit, mit einer Weinflasche die Hügel hinaufzusteigen und den Tag dort ein wenig trunken zu verbringen, in Betrachtung und Meditation versunken. Wisst Ihr, was er beobachtete? (…) Die Kommentatoren erklärten, dass er das Band von Licht suchte, das die Freude und das Leben auf ewig vereinen würde, - das Leben und die Freude, und sie machten sich über ihn lustig und nannten ihn einen Trunkenbold und einen Verrückten.

Hesychia

In der byzantinischen Mystik hat diese Freude einen Namen: Hesychia, oft zu restriktiv mit „innere Ruhe, Frieden, Gelassenheit“ übersetzt. In Wahrheit handelt es sich um ein Gefühl des absoluten Glücks, um eben jene Verbindung von Leben und Freude in der Stillemyein, Augen und Lippen geschlossen, die der chinesische Malermeister gesucht und gefunden hat.

Jedoch (denn es gibt eine jedoch): Das Problem ist, dass diese Verbindung, einmal hergestellt, nicht anhält. Das Drama aller Mystiker besteht darin, dass auf ewig nicht zur conditio humana gehört. Deshalb müssen sie stets zurückkehren, Grenzgänger zwischen Wort und Stille, und wieder ist es der Mangel, der überhandnimmt.

Wer aber nun einmal diese Vollkommenheit erreicht hat, will sie wieder neu erfahren, und arbeitet daran in einem steten heroischen Kampf.

Askese

Dieser Kampf ist die Askese.  Askesis bedeutet ursprünglich körperliche Übung im Gymnasium. Die Übernahme des Begriffes ist nicht von ungefähr, denn der Kampfplatz ist der Körper des Mystikers, die Askese seine ständige Übung in der Ganzheit seiner Person, Körper und Geist. Um das Absolute zu erfahren, muss er immer wieder von neuem Augen und Lippen schließen und sich auf die Reise machen, um zur Metamorphose seiner selbst zu gelangen.

Rûmî, die Byzantiner und die Chinesen

Tun wir für einen Augenblick das Gleiche, schließen wir Augen und Lippen und begeben uns ebenfalls auf die Reise. Sie führt  uns an den Hof des Sultans. Ein Sufi – Rûmî – erzählt uns davon, und er spricht von den Byzantinern.

Die Diskussion zwischen den Byzantinern und den Chinesen über die Kunst zu malen

Die Chinesen sagten: „Wir sind die besten Künstler.“ Die Byzantiner: „Wir sind diejenigen, denen die Meisterschaft zukommt, und die Perfektion.“

„Ich werde Euch prüfen,“ antwortet der Sultan, „und sehen, wer von Euch beiden den Anspruch zu Recht erhebt.“ (…)

Daraufhin sagten die Chinesen: „Gebt uns einen Saal, und die Byzantiner sollen auch einen haben.“

Es gab im Palast zwei Säle, deren Türen einander gegenüber standen: die Chinesen nahmen den einen, und die Byzantiner den anderen.

Die Chinesen baten den Sultan, ihnen hundert Farben zu geben, und der Sultan ließ seinen Schatz öffnen, damit sie empfingen, was sie begehrten. (…)

Die Byzantiner aber erklärten: „Keinerlei Farbe oder Tinktur kann unserer Arbeit dienen. Es muss nur der Rost entfernt werden.“

Sie schlossen die Türen und begannen, die Wände zu polieren, bis sie hell und klar wurden wie der Himmel. (…)

Es gibt einen Weg, der von der Buntheit zur Farblosigkeit führt. Die Farbe ähnelt den Wolken, die Farblosigkeit ähnelt dem Mond. Welches Licht und welchen Glanz du auch immer in den Wolken siehst, wisse, dass sie von den Sternen, dem Mond und der Sonne stammen.

Als die Chinesen mit ihrer Arbeit fertig waren, begannen sie vor Freude die Trommel zu schlagen.

Der Sultan trat ein und sah ihre Malerei. Er betrachtete sie, und sein Geist  ward entzückt.

Anschließend ging er zu den Byzantinern: sie zogen den Vorhang beiseite, der sie von den anderen trennte.

Der Widerschein der chinesischen Bilder traf auf die Wände, die von allem Schmutz gereinigt waren.

Alles, was der Sultan bei den Chinesen gesehen hatte, erschien hier schöner: und sein Blick ward entrückt.(…)

Die Reinheit dieses Spiegels ist ganz sicher das Herz, das zahllose Bilder empfängt.

So Moses, der in seiner Brust die unendliche, formlose Form des Unsichtbaren bewahrt, die sich in seinem Herzen widerspiegelt, obwohl es diese Form weder im Himmel gibt, noch im Empyreum, noch in den Sphären der Sterne, und  auch nicht auf der Kugel, die auf dem Fisch ruht.

Denn all diese haben Grenze und Zahl, aber der Spiegel des Herzens ist grenzenlos.

Denn das Herz ist mit Gott, ja, das Herz ist Gott.

Djalâl-od-Dîn Rûmî, Mathnawî, I, 3467 ff

Nach der Lektüre diese schönen Geschichte drängt sich folgende Frage auf: hat der mohammedanische Mystiker Rûmî in seiner Erzählung nicht nur den gemeinsamen Inhalt aller Mystik, sondern auch den spezifischen Charakter der byzantinischen Mystiker richtig erfasst? Versuchen wir kurz, das zu prüfen.

 

ZWEITER TEIL: BESONDERHEITEN DER BYZANTINISCHEN MYSTIK

„Denn das Herz ist mit Gott, ja, das Herz ist Gott“, schreibt Rûmî zum Abschluss seiner Geschichte. Eine gewagte These, die aber von der byzantinischen Mystik bestätigt wird. Die Vergöttlichung des Menschen, die theosis, ist ihr ganzes Ziel. Rûmî liegt also richtig. Richtig liegt er auch mit seinem Zögern: das Herz ist mit Gott …ja, das Herz  ist Gott. Es ist ein langer Weg zu durchschreiten, bis man zu letzterer Aussage gelangt.

Aber beginnen wir mit dem Anfang des Weges, so wie Rûmî ihn in seiner Geschichte schildert.

Der Weg zur Metamorphose

Der erste Schritt der Byzantiner besteht darin, die Wände, in denen wir den Spiegel der Seele erkannt haben, vom Rost der Bilder und Begriffe zu befreien, die uns in die Irre führen. Bei einer monotheistischen Religion ist das besonders schwierig: die Vorstellung eines persönlichen Gottes rutscht leicht ins Bildliche ab. Mehr als die offizielle, exoterische Religion sind sich die Mystiker dieser Gefahr bewusst und versuchen, dagegen anzukämpfen. Man sieht am folgenden Text von Dionysios Areopagita die Anstrengung, den Gottesbegriff auch wirklich von allen Konzepten zu lösen:

Weiter emporsteigend sagen wir von Gott: Weder ist er die Wahrheit, noch die Herrschaft, noch die Weisheit. Weder ist er eins, noch die Einheit. (…) Weder gibt es ein Wort von ihm, noch einen Namen, noch ein Wissen. Weder ist er Dunkelheit noch Licht. Weder Irrtum noch Wahrheit. (…) Denn er ist über jeder Bejahung als der völlig eines seiende Urgrund von allem. Und über jeder Verneinung als die Erhabenheit des von allem völlig Gelösten, das alles überragt.“ (Dionysios Pseudo-Areopagita, Mystische Theologie, Schluss)

Dies genau ist Rûmîs unendliche formlose Form des Unsichtbaren, die sich im reinen Spiegel von Moses Herz reflektiert.

Diese unendliche formlose Form ist nicht zu beschreiben. Deshalb ist die apophatische Theologie, die jede Aussage über Gott verweigert, auch die Basis der byzantinischen Mystik. Sie ist der Beginn des Weges, der von der Buntheit zur Farblosigkeit führt.

Die darin erhaltene Aufhebung aller Konzepte beinhaltet ein wichtiges Merkmal der mystischer Sprache: das Spiel mit Paradoxen und die Gleichsetzung von Gegenteilen, wie schwarzes Licht, vermittelte Unmittelbarkeit, oder Sehen ohne Bilder. Diese Art von Sprache führt zum Zusammensehen von Geschiedenheit und Einheit; von Suchen  und Finden; Nichts- und Gottsein; Dunkelheit und Licht; Immanenz und Transzendenz.

Womit wir wieder an den Grenzen der Sprache angelangt sind. Befinden wir uns vielleicht in einer Sackgasse?

Nein. Denn schon sind wir beim zweiten von Rûmi geschilderten Schritt, bei dem wir von der Stille der Sprachlosigkeit wieder zum Logos geführt werden. Clemens von Alexandrien beschreibt das so, in einem einzigen Satz, der die Inkarnation betrifft, in der Körper und Sprache untrennbar vereint sind:  Das Wort Gottes ist Mensch geworden, damit du von einem Menschen erfährst, wie der Mensch zu Gott wird.

Dies also ist der Weg zur Metamorphose, die die Tore zum Absoluten öffnet. Das Wie? des angedeuteten Weges ist hier das spezifisch Byzantinische: nicht in der menschlichen, leidenden, sondern in der verklärten Vision Jesu soll der Mensch zu sich kommen, mit Gott sein, Gott sein.

Der Berg Tabor

Diese Vision ist die Jesu auf dem Berg Tabor (Mt. 17,1-9, Mc. 9,2-9, Lc. 9,28-36), bei der er seinen drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes verklärt und von Moses und Elias umringt erscheint:

Sein Antlitz strahlte wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. (Mt. 17,1–8)

Mit dem Wort Verklärung wird in dieser Bibelstelle der griechische Terminus Metamorphosis übersetzt. Wieder sieht man hier die Kohärenz der orthodoxen Spiritualität. Die Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor, durch deren Kontemplation der Mystiker die seines eigenen Bewusstseins anstrebt, ist ebenfalls die zuerst gemalte Ikone eines jeden Ikonographen. Wort und Bild, im Körper Jesu Christi, dem Imago Die vereint, stehen auch hier als die beiden Pfeiler der Orthodoxie.

Gottesebenbildlichkeit und Trinität

Die Verklärung geschieht durch den Heiligen Geist. In der Orthodoxie ist die Heilige Dreieinigkeit und das Mysterium der Personen Ziel aller Kontemplation.

Dreieinigkeit, über alles Wesenhafte hinaus, mehr als göttlich und mehr als gut: du, die du über alle christliche Gottesweisheit wachest, führe uns nicht nur jenseits von Licht und Dunkel, sondern auch über das Unerkennbare hinaus bis nahe an die höchsten Gipfel des mystisch deutenden Wortes (Logos!), bis dorthin, wo die einfachen, absoluten und unversehrbaren Mysterien des Gotteswissens offenbar werden und wo die Dunkelheit des Schweigens über das Licht hinaus die Wahrheit erhellt: denn – tatsächlich – in diesem Schweigen enthüllen sich die Geheimnisse des Dunkels. (Dionysius Areopagita, Mystische Theologie und andere Schriften, PG 3, Sp. 997-1001)

Der doppelte Sinn von myein ist hier vereint: in der Stille und dem Dunkel vor der Schöpfung.

 

Offenbarung und Transzendenz

Die Spirale der Kontemplation geht jedoch noch weiter. Unablässig dreht sie sich um den unaufhebbaren Widerspruch von Offenbarung und Transzendenz.

Gregorios Palamas (1296–1359) hat mit seiner Lehre von den ungeschaffenen Energien einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Jene Energien nämlich stellen das Göttliche in der Schöpfung dar. So gibt es zwei Pole Gottes: die nicht begreifbare Alterität (Trinität) und die totale Selbstschenkung (Energien). Gregorios schreibt:

Die göttliche Natur muss man zugleich als vollkommen abgeschieden und trotzdem in gewissem Sinne mitteilbar bezeichnen. Wir können an der göttlichen Natur teilhaben, und trotzdem bleibt sie uns völlig unerreichbar. Wir müssen beides annehmen und diese Antinomie als einen Ausdruck des Glaubens begreifen. (Gregorius Palamas, Von der Gottwerdung des Menschen)

Der Ort, in dem diese Antinomie ihr mögliches Gleichgewicht findet, ist das menschliche Herz. Deshalb ist das Ziel des Aufstiegs auf den Berg Tabor die Metamorphose des Herzens.

Dies ist es, was einige Väter ‚Ruhe des Herzens’ genannt haben, andere einfach ‚Aufmerksamkeit’, andere ‚Bewachung des Herzens’, (…) oder ‚Bewahrung des Geistes’. Alle haben sie jedenfalls den Boden ihres Herzens beackert und sind dafür mit der göttlichen Manna gespeist worden. (Symeon dem Neuen Theologen zugeschrieben, 12. Jh.)

Das Herz ist der Ort wo Logos, Pneuma, Materie sich vereinigen. Die Mystik bringt häufig die Begriffe von Ort und Gott zusammen, wie man am hebräischen Wort Makom sehen kann : Makom heißt Ort, ha-makom, der Ort, der Ort an sich, ist im Talmud eine geläufige  Bezeichnung für Gott.  

Die mystische Methode im Allgemeinen und die byzantinische im Besonderen besteht also darin, aus dem Herzen den Ort, der Gott ist, HaMakom, zu machen, und damit sind wir wieder bei Rûmî, denn das Herz ist mit Gott, ja, das Herz ist Gott, und bei der Einheit mystischer Intuition.

Das monodische Gebet und der verklärte Leib

In der byzantinischen Mystik erreicht wird dieser Ort durch das monologische Gebet, durch Atemübungen und spezifische Körperstellungen erreicht; und durch Nachtwachen und Fasten. Der spirituelle Vater überwacht diesen an Gefahren reichen Weg, dessen  Endziel der verklärte Leib ist, so wie Symeon, der neue Theologe es bei seinem Schüler mit folgenden Worten tut:

Dann aber setz dich in eine Zelle, allein in eine Ecke, und tue, was ich dir sage. Schließ die Tür ab und erhebe deinen Geist über alles Nutzlose und Zeitgebundene. Stütze dann den Bart auf die Brust und bewege dein Auge samt dem Geist rund um deinen Bauch, beziehungsweise deinen Nabel. Und jetzt kontrolliere die Atemluft, die durch die Nase eindringt, so dass das Atmen nicht zu leicht von statten geht. Erforsche dann mit deinem Geist das Innere der Eingeweide, um den ‚Ort des Herzens’ zu finden, wo alle Kräfte der Seele beheimatet sind. Zunächst wirst du nur auf Dunkel stoßen und auf kompakten Widerstand. Bleibst du aber tags- und nachtsüber am Werk, dann wirst du – o Wunder! – ein Glück ohne Grenzen finden. In dem Augenblick, in dem der Geist den Ort des Herzens gefunden hat, versteht er, was er bisher nie erfahren hat. Er erblickt die Luft mitten im Herzen und sich selbst, ganz in Licht getaucht und voll Unterscheidungskraft. Und wenn dann eine  Überlegung auftauchen will, vergisst er sie, bevor sie Form und Gestalt annehmen kann, durch die Anrufungen Christi. Von diesem Augenblick an bildet sich im Geist, dem Feind der Dämonen, ein natürlicher Zorn heraus, mit dem er alle geistigen Feinde in die Flucht schlägt. Alles übrige wirst du mit Gottes Hilfe lernen, wenn du den Geist bewahrst und Jesus im Herzen festhältst. Setze dich also in deiner Zelle nieder, und die Zelle wird dich alles lehren. (Symeon dem Neuen Theologen zugeschrieben, 12. Jh.)

In der Zelle also, in deren Einsamkeit und Stille, geschieht der Aufstieg des Berges Tabor. Er ist die Jakobsleiter, die sich vom Sichtbaren zum Unsichtbaren erhebt,

Da aber die Dialektik nun einmal die Mystik beherrscht, gibt es auch einen Gegenpol zu dieser Einsamkeit, die die Zelle schon vorzeichnet, nämlich die Gemeinde. Der Mystiker kehrt stets zu ihr zurück, in Demut, Gehorsam und Nächstenliebe. Die orthodoxe Spiritualität sieht den Menschen in der Welt, selbst wenn er allein ist, und selbst im Augenblick der Ekstase, wo er über ein verklärtes Bewusstsein in einem verklärten Leib verfügt, die Symeon der neue Theologe so besingt:

Wieder leuchtet mir das Licht

 

wieder schau ich klar das Licht.

 

Wieder schließt es mir den Himmel auf,

 

und die Nacht verscheucht es mir.

 

Wieder deckt’s mir alles auf

 

und bringt mir alles an den Tag.

 

Wieder schaue ich das Licht allein.

 

Wieder hebt es mich über alle Sichtbarkeit empor,

 

und gleichermaßen trennt es mich

 

von allen Sinnendingen.

 

Wieder weilt, der über allen Himmel ist,

 

den keiner von den Menschen je gesehen, in mir.

 

Nicht entriegelt er die Himmelstür,

 

nicht bricht er Bahn sich durch die Nacht,

 

nicht scheidet er das Luftgebilde,

 

und er versehrt das Dach des Hauses nicht,

 

nein, ohne auch nur etwas zu durchstoßen,

 

weilt er bei mir, dem Armen,

 

mitten in meiner Zelle

 

und inmitten meines Geistes

 

und mitten in meinem Herzen, -

 

o verehrungswürdiges Geheimnis –

 

fällt das Licht mir

 

und es bleibt doch alles, wie es ist,

 

und dieses Licht erhebt mich über alles.

 

Und ich, der ich inmitten aller Dinge bin,

 

bin allen Dingen nun entrückt.

 

Hier bin ich gänzlich jetzt in Wahrheit ich,

 

wo nur noch Licht um mich ist, nur noch Licht! (…)

 

(Symeon der Neue Theologe, Hymnen)

Ende des Aufstiegs. Dies also ist die Hesychia: die Freude, die Aufhebung des Gegensatzes von mit Gott sein und Gott sein. Sie ist das Band von Licht, das das Leben und die Freude für immer vereint. Womit wir am Ende der Metamorphose angelangt sind.

Überwindung des Körpers durch den Körper und des Bildlichen durch das Bild

Zusammenfassend können wir sagen, dass die byzantinischen Mystik die Überwindung des Körpers durch den Körper ist, welche zur Verklärung führt.

Auf einer anderen, parallelen Ebene, der des zweiten Pfeilers der Orthodoxie, ist sie die Überwindung der Bilder durch das Bild, die Ikone. Auch die Ikone ist eine Verklärung (Metamorphosis) durch Licht. Sie ist die Weisheit des Bildes, Ikonosophia, die der Sultan in den polierten Wänden der Byzantiner erblickt hat – der Gedanke, der sich im Bild ausdrückt.

In der zweiten Phase des Bilderstreits formuliert der Patriarch Nikephoros folgendermaßen den theologischen Anspruch der Ikone:  

Wenn also das Evangelium, das ins Gehör der Gläubigen dringt, solcher Ehren wert ist – unser Glaube kommt ja vom Hören – dann hat das, was dem Auge entgegentritt und durch die sinnliche Wahrnehmung dieselbe Lehre vermittelt, sogar einen Vorzug infolge der schnellen Unmittelbarkeit der Unterrichtung, weil der Gesichtssinn besser als das Gehör zu beglaubigen vermag. … Die Ikone ist also Evangelium!

(Patriarch Nikephoros, 9. Jh.)

Die Ikone als Evangelium

Die Ikone bewirkt in dem, der sie zu betrachten weiss, wie das Wort der Evangelien eine Metamorphosis, eine Verklärung. Rûmî hat auch in seiner Deutung des Bildlichen bei den Byzantinern recht gehabt hat. Er hat uns gut geführt. Die Ikone ist für die Orthodoxie nicht Abbild, sondern Urbild, sie ist die wahre Vision, weil sie pure Gegenwart ist. Die darauf dargestellten Personen sind Lichtwesen und als solche die einzig Wirklichen.

Auch die Technik der Ikone zeugt davon, dass man diese als Weg zum Licht verstehen muss. Sie wird in mehreren, sukzessiven Schichten gemalt, die vom Dunkeln zum Hellen führen. Das Gold auf ihrem Hintergrund ist keine Farbe, sondern Licht. Es ist die Offenbarung der göttlichen Energien. In der Ikone gibt es keine Schatten – nur Sein, kein Nichtsein. Denn Finsternis ist Nichtsein, während alles was existiert, Energie ist, also Licht.

Die Ikonostase ist die genaue Grenze zwischen zwei Welten. Sie ist ebenfalls eine Jakobsleiter zum Unsichtbaren hin. Über das Figurative führt sie zum Prototyp zurück zur wahren Vision. Allerdings nur, wenn der Betrachter dazu fähig und bereit ist. Sonst ist sie nicht mehr als ein bemaltes Brett.

Um zur wahren Vision zu gelangen, muss die Perspektive immer wieder neu umgekehrt werden. Nur in einer umgekehrten Perspektive können die Engel auf der Jakobsleiter hinauf und hinabsteigen, um Segen von oben und Segen von unten gleichermaßen zu verteilen. (Ps. 23, Richter 1,15).

Geduld

Jetzt könnte man zum Abschluss fragen, woraus denn diese Leiter denn beschaffen ist? Sie ist aus Geduld gemacht, die uns alle Mystiker lehren.

Wieder ist es Rûmî, der uns das in einer Geschichte erklärt, die sich wie ein Echo der hesychiastischen Methode anhört: 

Atem, Geduld, Stille

Vor seinem Tod versammelte ein Mann seine drei Söhne und sagte ihnen: „Der weiseste unter Euch soll mein ganzes Vermögen erben.“

Nachdem er diese Worte in Gegenwart eines Richters und seiner Kinder gesprochen hatte, nahm er den Todestrunk. Die Söhne wandten sich daraufhin an den Richter: „Wir sind jetzt Waisen, bereit, den letzten Willen unseres Vaters zu respektieren.“

Der Richter überlegte einen Moment und sagte: „Jeder von Euch soll angeben, welche Tugend ihn besonders auszeichnet.“

Der erste Sohn erklärte: „Ich erkenne einen Menschen in dem Augenblick, wo er redet, und wenn er schweigt, genügen mir drei Tage, um ihn richtig zu beurteilen.“

Der zweite Sohn meinte: „Wenn jemand mit mir spricht, verstehe ich, was er sagt, und wenn er nicht mit mir spricht, zwinge ich ihn dazu.“

„Und wenn er nun eigensinnig weiter schweigt?“ wandte der Richter ein.

Der dritte Sohn sagte daraufhin: „Ich beobachte meinen Atem und verhalte mich still. Ich mache aus der Geduld eine Leiter, um auf das Dach des Glücks zu steigen.

Dank der wunderbaren Leiter der Geduld entfiel das gesamten Vermögen des Vaters an den jüngsten Sohn. Aber er brauchte es nicht auf dem Dach des Glücks.

Ich danke Ihnen meinerseits für Ihre Geduld.

 
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